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Wie Expertïnnen die Gefahr digitaler Desinformation in Deutschland einschätzen | Facebook will das Metaverse dominieren

Wie Expertïnnen die Gefahr digitaler Desinformation in Deutschland einschätzen | Facebook will das Metaverse dominieren

Wie Expertïnnen die Gefahr digitaler Desinformation in Deutschland einschätzen

Was ist

Die Vodafone-Stiftung hat 63 Menschen aus Medien, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Tech-Branche gefragt, für wie gefährlich sie Desinformation in Deutschland halten – und was man dagegen tun könnte. (Pressemitteilung, PDF)

Unsere Offenlegung gleich zu Beginn: Fiete Stegers, der die Studie durchführte, hat dabei auch mich (Simon) um meine Einschätzung gebeten. Da die Befragung im Frühjahr und Sommer 2020 durchgeführt wurde, kann ich mich nicht mehr an meine Antworten erinnern. Meine Zitate, die in der Studie auftauchen, finde ich überraschend vernünftig. Darüber hinaus haben wir nichts mit der Vodafone-Stiftung zu tun. Wir hätten auch über die Ergebnisse berichtet, wenn das Social Media Watchblog keine Erwähnung gefunden hätte.

Warum das wichtig ist

In zwei Monaten wird in Deutschland gewählt. Seit anderthalb Jahren führt eine Pandemie zu einer Infodemie. In diesen Zeiten ist es besonders schwer, im Netz zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, weil Menschen mit fragwürdigen Motiven versuchen, Wählerïnnen zu beeinflussen oder Angst zu schüren.

Welche Auswirkungen gezielt gestreute Lügen und Gerüchte aber wirklich habe, ist umstritten und kaum erforscht. Auch die Studie "Desinformation in Deutschland" liefert keine abschließenden Erkenntnisse. Das ist bei so einem vielschichtigen Thema, bei dem etliche Faktoren eine Rolle spielen, auch nicht möglich. Doch die Meinung von mehr als 60 Menschen, die sich beruflich damit beschäftigen, gibt zumindest einige Anhaltspunkte.

Was die Studie ergeben hat

Wenn du unsere Briefings regelmäßig liest, dann dürfte dir das Meiste bekannt vorkommen. Die Einschätzungen der Befragten decken sich weitgehend mit dem, was wir seit Jahren schreiben. Dennoch sind einige interessante Details und Abweichungen dabei. Wir konzentrieren uns auf sechs zentrale Erkenntnisse:

1. "Fake News" ist ein ungeeigneter Begriff für ein wichtiges Thema

2. Cheap Fake sind gefährlicher als Deep Fakes

3. Wir müssen über Messenger reden

4. Wir müssen über klassische Medien reden

5. Wir müssen über ältere Menschen reden

6. Keine direkte Wahlmanipulation, aber Polarisierung und Radikalisierung

Be smart

Die Einschätzung der Expertïnnen unterscheidet sich deutlich von der Meinung der meisten "normalen" Menschen. 82 Prozent der Befragten bei einer Forsa-Umfrage im Auftrag der NRW-Landesmedienanstalt (PDF) stimmten der Aussage zu: "Ich habe Sorge, dass durch politische Desinformationskampagnen das Wahlergebnis manipuliert wird."

Auch das Rheingold Institut hat Menschen im Auftrag des Tabakkonzerns Philip Morris für die Studie "Wir wir wirklich leben" befragt. Wir warnen davor, einzelne Umfragen überzubewerten, zu stark unterscheiden sich die Ergebnisse in Abhängigkeit von Methodik und Fragestellung.

Trotzdem finden wir die Antworten spannend, die auf folgende Frage gegeben wurden: "Welche der folgenden Informationsangebote nutzen Sie, bevor Sie Ihre Wahlentscheidung treffen?" Nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten informiert sich demnach in Medien, dagegen sagen fast zwei Drittel der 18-34-Jährigen, dass sie die Wahlprogramme der Parteien heranziehen (hallo, soziale Erwünschtheit?).

Und angeblich spielen soziale Medien fast gar keine Rolle für die Wahlentscheidung: Gerade mal 30 Prozent der Jüngeren, 16 Prozent der 35-54-Jährigen und zehn Prozent der älteren Befragten sagen, dass sie Facebook, Instagram, Twitter, YouTube oder andere Plattformen dafür nutzen.


Facebook will das Metaverse dominieren

Was ist

Wenn Menschen digital kommunizieren, hat Facebook mit großer Wahrscheinlichkeit seine Finger im Spiel: die blaue App, Instagram, WhatsApp – kein anderes Unternehmen der Welt kontrolliert einen so großen Teil der Plattformwelt.

Darauf will sich Mark Zuckerberg nicht ausruhen. Er glaubt, dass nach dem Internet das Metaverse kommt – und natürlich soll Facebook auch da eine entscheidende Rolle spielen.

Was das Metaverse ist

In einem Interview mit Casey Newton (The Verge) beschreibt Zuckerberg die Vision folgendermaßen:

You can think about the metaverse as an embodied internet, where instead of just viewing content — you are in it. And you feel present with other people as if you were in other places, having different experiences that you couldn’t necessarily do on a 2D app or webpage, like dancing, for example, or different types of fitness.

Das Metaverse soll mehr sein als virtuelle Realität, sondern VR und AR kombinieren. Es geht nicht nur um Gaming oder Entertainment, irgendwann könnte sich das gesamte Leben ins Metaverse verlagern, alle Menschen begegnen sich als Avatare.

Das klingt nach abgedrehter Science-Fiction, die weit in der Zukunft liegt. Die Idee ist aber fast 30 Jahre alt: Der Begriff stammt aus dem Roman "Snow Crash", den Neal Stephenson 1992 veröffentlichte. Für eine ausführlichere Erklärung verweisen wir auf John Herrman und Kellen Browning (NYT).

Mark Zuckerberg sieht darin jedenfalls keinen Moonshot, sondern eine sehr konkrete Entwicklung, an der Facebook eng beteiligt sein soll:

I think over the next five years or so, in this next chapter of our company, I think we will effectively transition from people seeing us as primarily being a social media company to being a metaverse company.

Wie Facebook das Metaverse prägen will

Mit seinen Oculus-Brillen mischt Facebook bereits kräftig im VR-Markt mit (Cnet), doch es geht um mehr. Wenige Tage, nachdem Zuckerberg seine Vision skizziert hatte, zeigte Facebook, dass es wirklich ernst ist: Instagrams bisheriger Produktchef Vishal Shah wird künftig ein eigenes Metaverse-Team leiten. Die Abteilung soll eng mit Facebooks Gaming-Ableger zusammenarbeiten und direkt an Andrew Bosworth berichten, der den Bereich AR und VR leitet.

Facebook hat große Pläne: Zu den Tausenden Angestellten, die bereits bei Facebook Reality Labs arbeiten, sollen Hunderte weitere kommen, die das Metaverse-Team vergrößern. Zuckerberg investiert also signifikante Ressourcen in eine Vision, die den meisten Menschen noch sehr fremd ist.

Das liegt auch daran, dass er einen Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen möchte. Im Gegensatz zu Apple und Google sind Facebooks Versuche gescheitert, die mobile Revolution mit einem eigenen Betriebssystem zu begleiten. Jetzt hat Zuckerberg eine neue Chance:

One of the reasons why we’re investing so much in augmented and virtual reality is mobile phones kind of came around at the same time as Facebook, so we didn’t really get to play a big role in shaping the development of those platforms. So they didn’t really develop in a very natural way, from my perspective.

Als Facebook am Mittwochabend seine Quartalszahlen für das zweite Quartal (Investor Facebook) verkündete, nutzte Zuckerberg die Gelegenheit, um Aktionärïnnen und Analystïnnen das Metaverse nahezubringen – und noch mal deutlich zu machen, dass Facebook viel Geld ausgeben wird, um dort präsent zu sein:

It is going to require very significant investment over many years. This is going to create a lot of value for a lot of companies up and down the stack. Over the long term, I think that there's going to be a very big digital economy.

Warum das Metaverse bereits beginnt

Tatsächlich entwickelt sich das Metaverse schon vor unseren Augen. Die Roblox-Plattform und Fortnite-Entwickler Epic Games schicken Nutzerïnnen längst in eine erweiterte virtuelle Realität. Bekannte Musikerïnnen wie der Rapper Lil Nas geben dort Konzerte, Menschen hängen dort gemeinsam ab, und man kann sich gut vorstellen, wie diese Welt in einigen Jahren Einzug in den Alltag hält, wie es auch mit dem Netz und Smartphones passiert ist.

Investorïnnen glauben jedenfalls daran: Roblox wurde im März mit 45 Milliarden Dollar bewertet (IGN). Johannes Klingebiel schreibt in seinem Newsletter über das Metaverse als Marketingvision:

Die Idee des Metaverse ist derzeit also vor allem Marketing, um Investitionen einzusammeln. Es ist das Standardvorgehen des Silicon Valleys.

  1. Skizziere einen großen Zukunftstrend, der angeblich unvermeidbar ist.
  2. Sammle mit diesem Argument Geld und Talent ein.
  3. Baue diese von dir skizzierte Zukunft und habe eine Monopol-Stellung in ihr.

Be smart

All das wirft viele Fragen auf: Wird sich die Vorstellung von Matthew Ball durchsetzen, der auf seinem Blog in einer Essay-Serie unter anderem Interoperabilität und ein offenes Ökosystem als Kriterien für das Metaverse beschrieb – oder steuern wir auf die nächsten Walled Gardens zu, in der wenige Unternehmen nach dem Netz auch das Metaverse dominieren? Und was ist eigentlich mit Werbung, wie will Facebook dort Geld verdienen?

Wir werden uns künftig wohl noch öfter und ausführlicher mit dem Metaverse beschäftigen. Schließlich sind Zuckerbergs Wetten auf die Zukunft oft aufgegangen. Bis dahin halten wir es mit Johannes:

Es ist durchaus möglich, dass das Metaverse tatsächlich die nächste Version des Internets ist, aber dazu fehlt es noch gewaltig an Technologie. Und es wäre mir dann doch lieber, wenn diese nicht von Facebook gebaut wird.


Header-Foto von Betzy Arosemena bei Unsplash