Social Media & Politik

The Markup durchleuchtet die Blackbox Facebook-Feed

  • Nur Facebook weiß, wie sich der Newsfeed zusammensetzt – wenn überhaupt. Selbst hauseigene Entwicklerïnnen kennen immer nur Teile der Algorithmen. Außenstehende können nur raten, nach welchen Kriterien die Inhalte zusammengesetzt werden.
  • Die Recherche-Organisation The Markup will das ändern. Im Rahmen des Projekts "Citizen Browser", über das wir mehrfach im Briefing berichteten, startet jetzt "Split Screen".
  • Das Tool zeigt, wie sich die Feeds von Menschen unterscheiden, die für Biden oder für Trump gestimmt haben: Welche Inhalte sie sehen, welche Quellen Facebook ihnen präsentiert.
  • Die Ergebnisse sind nicht besonders überraschend oder skandalös, bestätigen aber erneut, dass sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten im Netz oft in Parallelwelten bewegen.
  • Man kann sich die Feeds auch nach anderen Kriterien sortieren lassen: Wie unterscheiden sich die Inhalte für Männer und Frauen, was bekommen Millennials und Boomer zu Gesicht?
  • Das Projekt erinnert an "Blue Feed, Red Feed" (WSJ) und den "Facebook-Faktor" (SZ), die für die US-Wahl 2016 und die Bundestagswahl 2017 entwickelt wurden.

Biden versammelt den Antitrust-Alptraum der Tech-Konzerne

  • Es war abzusehen, dass sich für das Silicon Valley mit Joe Biden und Kamala Harris einiges ändern würde. Ausführliche beleuchteten wir die möglichen Folgen für Netzpolitik und Big Tech in Briefing #682.
  • Jetzt häufen sich Personalentscheidungen, die GAFAM Sorge bereiten dürften. Mit Tim Wu zieht ein scharfsinniger und renommierter Tech-Kritiker ins Weiße Haus ein (NYT). Dort soll er als Berater für Technologie- und Wettbewerbspolitik arbeiten.
  • Wu hat die Macht der Big Five immer wieder angeprangert und sich für eine Zerschlagung oder zumindest scharfe Regulierung ausgesprochen: "Extreme economic concentration yields gross inequality and material suffering, feeding the appetite for nationalistic and extremist leadership", schrieb er 2018 in seinem Buch "The Curse of Bigness: Antitrust in the New Gilded Age".
  • Eine ähnliche Bedrohung geht von der Juristin Lina Khan aus (Protocol), die künftig für die US-Handelskommission FTC arbeiten wird. Khan hat Kartellverfahren gegen Facebook, Amazon Google und Apple vorangetrieben und die monopolartige Machtkonzentration im Silicon Valley scharf verurteilt.
  • Die Dritte im Bunde ist die Demokratin Amy Klobuchar (Big Technology), die künftig dem Kartellkomitee des Justizausschusses des Senats vorsitzt. Sie will den Gesetzentwurf "Competition and Antitrust Law Enforcement Reform Act of 2021" einbringen und das Budget der Kartellbehörden drastisch aufstocken.
  • Wired spricht bereits von einem "Big Tech Antitrust All-Star Team", The Register sieht die "internet mega-corps' worst nightmares" gekommen.
  • Diese Einschätzung könnte etwas voreilig sein. Schließlich bestimmen zwei Personalien nicht den Kurs der Regierung – und auf jede Khan, jeden Wu und jede Klobuchar kommen 20 gut bezahlte und noch besser vernetzte Tech-Lobbyisten, die in Washington alles dafür tun werden, allzu scharfe Antitrust-Avancen abzuschwächen.
  • Trotzdem zeigen Bidens Äußerungen der vergangenen Jahre und seine jüngsten Entscheidungen: Der neue US-Präsident ist kein Freund von Mark Zuckerberg – und er wird es wohl auch nicht mehr werden.

Facebook vs. FTC

  • Apropos Antitrust: Facebook will die Kartellklagen der FTC und der US-Generalstaatsanwältïnnen zurückweisen, deren Hintergründe wir in Briefing #689 erklärten.
  • In einem Blogeintrag erklärt Facebook seine Gründe – und die Argumentation ist nachvollziehbar. Als die Klagen eingereicht wurden, kamen wir zum Schluss, dass die Klageschriften mehrere Widersprüche und Schwachstellen enthalten.
  • Casey Newton fasst es treffend zusammen (Platformer):

I don’t think Facebook’s motion to dismiss is likely to end the government’s ambitions to rein in the company. But it does highlight the steep challenge facing the FTC in the short term. A badly written lawsuit could still succeed at trial — but first it has to make it there.

Russland vs. Twitter, Indien vs. Social Media

  • Während sich Facebook in den USA der FTC widersetzt, geht es weiter östlich wilder zu: Russland legt sich mit Twitter an, Indien geht noch einen Schritt weiter und zielt auf alle Social-Media-Plattformen ab.
  • Russland drosselte die Geschwindigkeit, mit der Nutzerïnnen Inhalte auf Twitter hochladen können (TechCrunch) – angeblich, weil Twitter zuvor illegale Tweets nicht entfernt hatte.
  • Das löste scharfe Kritik aus und hatte unerwünschte Nebenwirkungen: Der Traffic des staatlichen ISPs Rostelecom brach ein. Offenbar hatte die Telekommunikationsbehörde Roskomnadzor ein paar Anfängerfehler mit Blocklisten gemacht (Arstechnica).
  • In Indien wird nicht gekleckert, sondern geklotzt: Der neue Digital Media Ethics Code (Pib.gov) richtet sich auch gegen Facebook und andere Plattformen. Unter anderem könnten Angestellte der Tech-Konzerne verhaftet werden, wenn sie nicht nach der Pfeife der Regierung tanzen.
  • Shubham Agarwal schreibt dazu:

India’s new law edges closer to the digital censorship of autocratic nations such as Russia and China, and could endanger the very foundation of free expression online.


Kampf gegen Desinformationen

  • YouTube hat im vergangenen halben Jahr mehr als 30.000 Videos entfernt, weil sie Desinformation über das Coronavirus enthielten: Axios
  • Desinformation ist mehr als ein Problem für Social-Media-Plattformen – auch Suchmaschinen wie Google tragen dazu bei, dass sich Lügen und Gerüchte verbreiten: What's New in Publishing
  • Ein dubioses Netzwerk aus Briefkastenfirmen macht Werbung für deutsche Unternehmen und Medien, pusht deren Reichweite mithilfe dubioser Facebook-Seiten mit Hunderttausenden Fans und bietet ein Einfallstor für gefährliche Desinformation: Correctiv
  • Facebook demonstriert (mal wieder) unfreiwillig die Schwächen seines Content-Moderation-Systems, indem es versehentlich seine eigenen Anzeigen zum Black History Month und Women’s History Month löscht: The Daily Beast
  • Das ist immer noch besser als Instagrams Algorithmen, die einer Studie des Center for Countering Digital Hate zufolge Anti-Impf-Desinformation und anderen gefährliche Lügen empfehlen: The Next Web
  • Parallel startet Facebook eine neue Kooperation mit der WHO, die "Gemeinsam gegen Falschinformationen zu Covid-19" heißt – manchmal könnte es auch helfen, bei den eigenen Algorithmen anzufangen: Facebook-Newsroom

Social Media & Journalismus

Best-Practice für TikTok

  • Die Rheinische Post ist seit Februar bei TikTok. Der Account ist mit rund 1500 Followern noch nicht durch die Decke gegangen, aber das kann ja noch werden. Immerhin gibt es einen, und damit hat die RP vielen andere Medien einiges voraus. Hannah Monderkamp erzählt, was es mit #LernenmitTikTok auf sich hat und welche Erfahrungen die RP bislang gesammelt hat.
  • Drei bis sieben Schritte weiter ist Yahoo News. Nach einem Jahr folgen dem Account 1,1 Millionen Menschen. Zwei Drittel unter 30, ein Drittel im Teenageralter. Eines der Erfolgsgeheimnisse: ein 24-jähriger TikTok-Redakteur, der die Plattform mit Inhalten "von Gen Z, für Gen Z" bespielt (Nieman Lab).
  • Passend dazu gibt TikTok in seinem Newsroom selbst "Fünf Tipps, wie deine TikTok-Videos viral gehen". Der Erkenntnisgewinn hält sich bei Ratschlägen wie "Erstelle Videos, die herausstechen" oder "Verbinde dich mit den richtigen Zielgruppen" aber in Grenzen. No shit, Sherlock.

Schon einmal im Briefing davon gehört

AI? Haha!

Hinter angeblich ach so intelligenten Maschinen stecken oft schlecht bezahlte Hilfskräfte, die die Systeme trainieren. Phoenix Nomi hat ein Jahr lang für Google Audiomitschnitte transkribiert und berichtet von ihren ernüchternden Erfahrungen. Ihr Fazit ist bitter (Berliner Gazette):

Abschließend lässt sich sagen, dass wir den Systemen der künstlichen Intelligenz bei Google vielleicht doch erfolgreich beigebracht haben, wie sie uns menschliche Transkribentinnen ersetzen können. Jedes Mal, wenn Sie in der Lage sind, automatische Closed Captions für ein YouTube-Video einzuschalten, oder während einer Google Meet-Telefonkonferenz, den Ton des Gesprochenen in Echtzeit nahtlos in Text umwandeln können, wobei die sogenannte künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt, hoffe ich, dass Sie an die Menschen denken, die für weit unter einem existenzsichernden Lohn gearbeitet haben, um diese Technologie möglich zu machen.

Facebook trainiert AI mit Instagram-Fotos

Dass sich Maschinen teils auch selbst anlernen können, demonstriert Facebook. Es hat sein neuronales Netzwerk SEER, das Inhalte in Bildern erkennt, mit einer Milliarde Foto gefüttert – für die es praktischerweise bei einem anderen Netzwerk namens Instagram bedienen konnte, das ebenfalls zum Facebook-Konzern gehört. Ein bisschen technisch, aber auch ziemlich faszinierend (The Register).

Kommen die Netzsperren zurück?

Verbände der Urheberrechte-Industrie haben die "Clearingstelle Urheberrecht im Internet" gegründet. Sie soll Provider verpflichten können (Heise), Angebote auf DNS-Ebene zu sperren, wenn diese systematisch Urheberrechte verletzen. Mit dabei sind 1&1, Mobilcom-Debitel, Telefonica, die Telekom und Vodafone Deutschland. Das könnte illegale Streamingseiten aus dem Netz tilgen – schafft aber gleichzeitig ganz neue Probleme, wie Markus Beckedahl beschreibt:

Netzsperren werden in zahlreichen, in der Regel autoritären, Staaten eingesetzt, um die Meinungs- und Informationsfreiheit einzuschränken. (…) Der Einsatz von Netzsperren in demokratischen Staaten normalisiert dieses gefährliche Instrument. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis Despoten und Autokraten auf Deutschland als Vorbild verweisen, wie es Erdogan und Putin bereits beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz getan haben, das sie als Steilvorlage für echte Zensurgesetze nutzen.


Empfehlung fürs Wochenende

  • Wir hätten diesen Link auch in unsere Kategorie "Kampf gegen Desinformation" packen können. Aber das wäre dem Text nicht gerecht geworden.
  • The Verge nennt den Artikel "brilliant" und packt die Aufforderung gleich in die Überschrift: "Go read this story on how Facebook’s focus on growth stopped its AI team from fighting misinformation".
  • Dieser warmen Empfehlung schließen wir uns an: Das Portrait, das Karen Hao über Facebooks Team für Responsible AI und dessen Chef Joaquin Quiñonero Candela geschrieben hat, ist lang und jede Leseminute wert.
  • Die Autorin hat fast 50 Interviews geführt und legt schonungslos offen, wie widersprüchlich und teils komplett gegensätzlich Facebooks Interessen sind. Die ethisch-moralisch geprägte AI-Folgenabschätzung, die gesellschaftliche Risiken minimieren will, verträgt sich nicht mit dem Grundsatz, der Facebook seit seiner Gründung prägt: dem nahezu grenzenlosen Willen zu wachsen – koste es, was es wolle.
  • Auch deshalb sind Quiñonero oft die Hände gebunden: "The Responsible AI team’s work is essentially irrelevant to fixing the bigger problems of misinformation, extremism, and political polarization. And it’s all of us who pay the price."
  • Auf Twitter merkt Hao an, dass der Schreibprozess vor allem deshalb schmerzhaft gewesen sei, weil es eben nicht um verdorbene Menschen gehe, die verwerfliche Dinge tun: "It's about good people genuinely trying to do the right thing. But they're trapped in a rotten system, trying their best to push the status quo that won't budge."

Header-Foto von Brandy Kennedy bei Unsplash