Der Facebook-Werbeboykott, erklärt

Was ist

Vergangene Woche stand an dieser Stelle:

Facebook hat eine turbulente Woche hinter sich.

Damals wussten wir noch nicht, was die kommenden Tage bringen würden. Jetzt braucht es einen Zusatz:

Facebook hat ein sehr turbulentes Wochenende hinter sich.

Der Werbeboykott, den wir in Ausgabe #649 analysiert haben, hat sich ausgeweitet – und wie. Immer mehr Unternehmen schließen sich der Kampagne #StopHateforProfit an und wollen im Juli keine Werbung mehr auf Facebook schalten.

Warum das wichtig ist

Facebook setzt pro Jahr rund 70 Milliarden Dollar um – den Großteil davon mit Werbung. Das Unternehmen ist nicht bekannt dafür, besonders schnell zu reagieren, wenn Datenschützerïnnen rüffeln oder Journalistïnnen kritisch kommentieren. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob Werbekunden mehr Einfluss auf Zuckerbergs Entscheidungen haben.

Was hinter #StopHateforProfit steckt

  • Mehrere große US-Bürgerrechtsorganisationen wie die Anti-Defamation League, Color of Change, NAACP und Sleeping Giants rufen Unternehmen dazu auf, keine Werbung mehr auf Facebook zu schalten.
  • Die Initiative hat prominente Unterstützerïnnen wie Prinz Harry und Meghan Markle (Axios), die Unternehmen ermutigen, sich anzuschließen.
  • Die Kampagne hat zehn Forderungen an Facebook formuliert, die verhindern sollen, dass die Plattform die Gesellschaft weiter polarisiert sowie Hass und Rassismus befeuert.
  • Unter anderem soll Facebook seine Gemeinschaftsstandards verschärfen, Beiträge auch in geschlossenen Gruppen moderieren und bestimmte Gruppen schließen, seine Empfehlungsalgorithmen überarbeiten und keine Ausnahmen für Politikerïnnen machen.
  • Die Forderungen sind größtenteils nicht neu, aber sie sind sinnvoll und könnten dazu beitragen, die schädlichen Auswirkungen der Plattform zu reduzieren.

Wer bei #StopHateforProfit mitmacht

  • Im vergangenen Briefing schrieben wir von "bekannten Namen", die sich angeschlossen hätten, darunter Ben & Jerry's, The North Face, Patagonia, Magnolia Pictures, Dashlane und Arc’teryx.
  • Mittlerweile sind richtig bekannte Namen hinzukommen, etwa Unilever, Coca-Cola, Pepsi, Honda, Levi's, Verizon und Starbucks.
  • Eine Google-Tabelle mit unterstützenden Unternehmen umfasst mittlerweile mehr als 180 Namen. Das Dokument ist allerdings etwas irreführend, da sich nicht alle Unternehmen der Kampagne #StopHateforProfit angeschlossen haben.
  • Starbucks und Coca-Cola nehmen etwa eine Werbe-Auszeit, führen dafür aber nicht die Initiative und deren Forderungen als Grund an, sondern bleiben in ihren Statements eher vage.
  • Ein wichtiger Dominostein fehlt bislang: Procter & Gamble, der über das größte Werbebudget in den USA verfügt. Angeblich wird bereits "im ganzen Unternehmen" diskutiert (Protocol), wie man sich dazu verhalten will.
  • Bislang war die Kampagne auf die USA beschränkt – das soll sich ändern: Jim Steyer, einer der Initiatoren der Bewegung, begründet das so (Axios):

It will go global because the world will agree with us, we are on the right side of history, period. And Facebook is on the wrong side of history, period, and people know that.

  • Während wir dieses Briefing schreiben, erreicht uns die Meldung (Axios), dass auch Microsoft keine Werbung mehr auf Facebook schaltet – allerdings wohl bereits seit Mai und auch ohne Zusammenhang zu #StopHateforProfit.

Wie Facebook reagiert

  • Am Freitag verkündete Mark Zuckerberg vier neue Maßnahmen, mit denen Facebook seine Nutzerïnnen im Wahlkampf vor Desinformation und schützen will.
  • Unter anderem verschärft Facebook seine Standards für den Umgang mit Werbeanzeigen, die Menschen aufgrund ihrer Ethnie, Herkunft, Religion, Kaste, sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität angreifen oder stigmatisieren.*
  • Außerdem legt Zuckerberg eine bemerkenswerte Kehrtwende hin: Künftig wird Facebook bestimmte Beiträge, die zwar gegen Facebooks Richtlinien verstoßen, aber "newsworthy" sind, mit einem Warnhinweis versehen und online lassen – schließlich liege es im allgemeinen Interesse, etwa bestimmte Aussagen von Politikerïnnen zu sehen.
  • Noch vor wenigen Wochen hatte Zuckerberg solche Warnhinweise abgelehnt und Twitter für ein ähnliches Vorgehen kritisiert.
  • Jetzt sagt er(Washington Post):

A handful of times a year we make a decision to leave up content that would otherwise violate our policies because we consider that the public interest value outweighs the risk of that content.

  • Die Änderungen greifen nicht rückwirkend und hätten Facebooks Umgang mit Trumps Postings ("When the looting starts, the shooting starts") ohnehin nicht verändert, sagt ein Sprecher. Dieser falle in eine andere Kategorie ("state use of force").
  • Während viele Medien (Guardian) und #StopHateforProfit die Ankündigungen als direkte Reaktion auf den Boykott werten, stellt Facebook die Situation anders dar. "We do not make policy changes tied to revenue pressure", schrieb Facebook-Managerin Carolyn Everson (CNN) in einer Mail an Werbekunden. "We set our policies based on principles rather than business interests."
  • Tatsächlich dauern Policy-Änderungen bei Facebook normalerweise länger und durchlaufen mehrere Abstimmungsebenen. Zudem wurde bereits Anfang Juni bekannt (Recode), dass Zuckerberg darüber nachdenkt, Warnhinweise einzuführen. Damals hatten Tausende Angestellte protestiert.
  • Womöglich hat der Werbeboykott Einfluss auf das Timing gehabt oder dazu geführt, dass Facebook interne Prozesse beschleunigt hat – eine direkte Reaktion auf die Ankündigungen von Verizon und Unilever, die sich kurz zuvor der Kampagne anschlossen, halten wir aber für unwahrscheinlich.
  • Natürlich bietet sich die Erzählung an: Sobald ein paar große Werbekunden anklopfen, kutscht Zuckerberg. Wir glauben: Es ist ein bisschen komplexer.
  • Zuckerberg hat tatsächlich Überzeugungen und Visionen, nach denen er handelt. Man muss seine Einstellungen nicht teilen, aber es erscheint uns unwahrscheinlich, dass er ausschließlich aus unternehmerischen Motiven und wegen des Drucks von #StopHateforProfit handelt.

Wie groß der Druck auf Facebook ist

Derzeit gibt es zwei Sichtweisen. Die einen sagen: #StopHateforProfit hat höchstens symbolischen Wert. Die anderen sagen: Diese Kampagne kann Facebook wirklich gefährlich werden.

Die erste Perspektive findet man etwa in dieser Analyse von Brian Fung (CNN). Das sind seine Argumente:

  • Nur drei der Unternehmen sind unter Facebooks 100 wichtigsten Werbekunden (Unilever: 30, Verizon: 88, REI: 90). Die 97 anderen Unternehmen pumpen also weiter Geld in Facebooks Anzeigenmaschinerie.
  • Selbst die Top-100-Werbekunden machen nur sechs Prozent von Facebooks gesamten Werbeerlösen aus.
  • Der Rest entfällt auf kleine und mittelständische Unternehmen – von denen sich Zehntausende dem Boykott anschließen müssten, damit es Facebook wirklich signifikant trifft.

Hinzu kommt eine Argumentation, die Shoshana Wodinsky aufmacht (Gizmodo):

  • Einige Unternehmen "boykottieren" Facebook, stecken aber weiter Geld in Instagram, das 2020 allein 20 Milliarden Umsatz mit Werbung generierte.
  • Andere streichen auch ihre Buchungen für Instagram, investieren aber nach wie vor in Facebooks Audience-Network.
  • Außerdem greift der Werbeboykott bislang erst in den USA und ist zeitlich befristet – es bleibt abzuwarten, ob sich international genauso viele Unternehmen anschließen und wie es im August weitergeht.

Dem steht die Perspektive gegenüber, aus der etwa Kurt Wagner auf das Geschehen blickt (Bloomberg):

  • Wie viele andere blickt er auf die Facebook-Aktie, die zwischenzeitlich 8,3 Prozent und damit 56 Milliarden Dollar an Wert verlor.
  • Das Privatvermögen von Mark Zuckerberg reduzierte sich binnen weniger Stunden um mehr als sieben Milliarden Dollar – er wird trotzdem ruhig schlafen, es bleiben noch rund 80 Milliarden übrig (Forbes).
  • Wagner zitiert unter anderem einen Analysten, der Facebook unter großem Druck sieht:

Given the amount of noise this is drawing, this will have significant impact to Facebook’s business. Facebook needs to address this issue quickly and effectively in order to stop advertising exits from potentially spiraling out of control.

  • Jonathan Greenblatt, Vorsitzender der Anti-Defamation-League und einer der wichtigsten Köpfe hinter #StopHateforProfit, prophezeit dem Konzern jedenfalls unruhige Zeiten:

Advertisers who have seen their own ads published against hateful, horrible content on Facebook (…) they are finally saying 'enough’'. Our phones have been ringing off the hook with advertisers. I can tell you more are coming.

Wir stehen irgendwo dazwischen:

  • Kurzfristige Aktienverluste oder -gewinne halten wir fast immer für schlechte Argumente.
  • Die Vergangenheit zeigt, dass sich Kurse meist schneller erholen, als wir Techlash buchstabieren können.
  • Bislang geht es eher um den symbolischen Wert. Der Werbeboykott wird sich in der Bilanz von Facebook kaum niederschlagen.
  • Trotzdem ist die Lage für Facebook knifflig: Angesichts der Corona-Pandemie reduzieren viele Unternehmen ohnehin ihr Werbebudget, darunter leidet auch Facebook. Außerdem sind viele Angestellte unzufrieden mit den Entscheidungen von Zuckerberg (mehr dazu in Briefing #643).
  • Der Facebook-Chef hat dank seiner Aktienanteile zwar die volle Kontrolle, kann quasi ungestört durchregieren und Widerworte aus dem Aufsichtsrat einfach weglächeln – doch wenn niemand mehr bei Facebook werben will und die klügsten Köpfe woanders arbeiten wollen, hat auch Zuckerberg ein Problem.
  • Zu allem Überfluss sitzt auch noch ein Mann im Weißen Haus, dessen Handlungen vermutlich nicht mal er selbst länger als ein paar Stunden voraussehen kann. Trump ist dermaßen unberechenbar und bauchgesteuert, dass Facebook sich auf unruhige Monate bis zur Wahl 2020 einstellen muss.
  • Deutlich wird das in diesem Text des Harvard-Professors Jonathan Zittrain (The Atlantic), der Handlungsoptionen für Twitter im Umgang mit Trump durchspielt. Die Zeile "Twitter’s Least-Bad Option for Dealing With Donald Trump" spricht für sich – und lässt sich direkt auf Facebook übertragen.
  • Wer dazu noch diese hervorragende Recherche liest (Washington Post), die deutlich macht, wie Facebook seit 2015 verzweifelt versucht, sich nicht von Trump verrückt machen zu lassen, kann fast Mitleid bekommen. Fast.

Be smart

Bei einigen der Unternehmen, die nun öffentlichkeitswirksam den Boykott unterstützen, dürften nicht nur moralische Werte, sondern kühle Kalkulation dahinterstecken. Nilay Patel, Chefredakteur von The Verge, drückt es so aus (Twitter):

CEO: The pandemic has wrecked our forecasts for the year

CMO: Uh oh

CEO: As you know, the first thing to get cut is advertising

CMO: What if I take the social media line to zero and turn that into a gigantic earned media win

Tatsächlich kann es sich für einige Konzerne rechnen, wie diese Zahlen zeigen (FAZ):

In einer Schätzung für die F.A.Z. beziffert das amerikanische Analyseunternehmen Critical Mention den Werbeeffekt der globalen Boykottberichte für Coca Cola auf 194 Millionen, für Starbucks auf 160 Millionen und für die Outdoor-Marke The North Face auf 218 Millionen Dollar.

Wie es mit #StopHateforProfit weitergehen wird? "Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen." Aber vielleicht hilft ein Blick in die Vergangenheit.

2017 wurde schon einmal ein großes Tech-Unternehmen boykottiert: YouTube. Damals schlossen sich unter anderem AT&T, Verizon, Walmart, Pepsi an, nachdem die Times enthüllt hatte, dass Anzeigen der Unternehmen vor extremistischen Videos geschaltet wurden. YouTube reagierte mit schärferen Regeln (Google-Blog), die Werbekunden kamen bald wieder zurück – und nach allem, was wir wissen, geht es YouTube heute ganz gut.

Wie schließen uns deshalb der Einschätzung von Will Oremus an, der mit Blick auf Facebook ableitet (OneZero):

What that tells us is that ad boycotts of social media platforms can work – if the goal is to spur incremental changes to their policies, rather than an overhaul of their basic structure. In Facebook’s case, it seems likely that the company will find ways to accept some of the “Stop Hate for Profit” campaign’s recommendations, while skirting those that would cause the company the most friction with Trump and other conservatives who want it to keep its hands off of their content.


Social Media & Politik

  • Parler: das neue Refugium für die Rechte: Immer wieder berichten wir darüber, dass sich die Konservative in den USA von Big Tech in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten sieht. Um dieser „Zensur“ durch Twitter und Co zu begegnen, gibt es immer wieder Diskussionen darüber, den etablierten Social-Media-Plattformen den Rücken zu kehren – vor allem bei der extrem Rechten. Das neueste Refugium hört auf den Namen Parler. Mark Sullivan hat sich die Plattform für Fast Company angeschaut und schreibt:

    "Parler isn’t exactly the “public square” many of its users say they want. I found no real debate, nor any real conversation. Instead, I found a lot of virtual head-nodding and ditto-heading. It’s a right-wing echo chamber where mainly older white people exchange right-wing memes and conspiracy theories about liberals, Democrats, and the causes and beliefs typically associated with them. And that’s okay."

    Und genau das ist das Problem mit diesen alternativen Plattformen: sie reparieren nicht den politischen Diskurs, den Facebook und Twitter ihrer Meinung zufolge so stark beschädigt haben. Sie bieten einfach Orte, an dem die Rechte sagen kann, was sie will, ohne dass ihre Fakten in Frage gestellt werden. Dass sich die Rechte in ihre eigenen Hass-Bubbles zurückzieht, kann man positiv und negativ sehen. Negativ, weil sich dann Welt- und Feindbilder zementieren können. Positiv, weil sie dann über ihre eigene Basis nicht hinauswachsen.

  • Instagram, TikTok & Google Doc: DIE Plattformen für Protest Seit dem Arabischen Frühling arbeiten sich Medien gern am Narrativ ab, dass eine bestimmte Social-Media-Plattform jeweils maßgeblich für die Politiiserung der Aktivisten verantwortlich sei. Dass soziale Medien einen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben, wollen wir auch nicht in Frage stellen – im Gegenteil: diese Annahme ist fester Bestandteil der Social-Media-Watchblog-DNA. Wie beliebig aber die Analysen ausfallen können, wird deutlich, wenn mit Blick auf die Proteste in den USA sowohl Instagram (NBCNews), Google Docs (Protocol) als auch TikTok (New York Times) maßgeblich dafür verantwortlich sein sollen, dass sich so viele Menschen den Protesten anschließen.

Kampf gegen Desinformation


Datenschutz-Department

  • TikTok liest aus, was Menschen auf dem iPhone in die Zwischenablage kopiert haben, berichtet netzpolitik. So frage die Video-App „aggressiv“ den Zwischenspeicher der Nutzerïnnen ab. Das Problem: Darin können sich sensible Informationen wie Passwörter befinden. Laut TikTok sei dieses Vorgehen notwendig, um Spam zu begegnen. Das Unternehmen habe aber trtozdem bereits eine neue Version beim Appstore eingereicht, um die Praxis künftig zu unterbinden.

Video Boom

  • Microsoft macht Mixer dicht: Oh boy, das ging schnell! Im August 2019 wurde bekannt, dass E-Sport-Superstart Richard Tyler Blevins (aka Ninja) fortan exklusiv für Microsofts Streaming-Plattform Mixer streamt. Angeblich hat sich Microsoft diesen Deal 25 Millionen Dollar kosten lassen. Nun vollzieht das Unternehmen eine Kehrtwende und macht Mixer dicht (Wired). Die Chancen, Twitch, YouTube und Facebook Gaming ernsthaft Konkurrenz zu machen, werden einfach als zu gering eingeschätzt. Die Zahlen zeigen, wie groß der Abstand ist: Im Jahresvergleich ist Twitch um 101 Prozent gewachsen, Mixer hat lediglich um 0,2 Prozent zulegen können. Künftig setzt Microsoft daher auf Facebook Gaming.

Follow the money


Neue Features bei den Plattformen

Facebook

Instagram

  • Reels jetzt auch in Deutschland verfügbar: In Ausgabe #591 berichteten wir, dass Instagram ein Musik-Video-Remix-Feature gelauncht hat, das stark an TikTok erinnert und wohl auch in erster Linie dafür gedacht ist, TikToks Siegeszug auszubremsen. Nach einem Testlauf in Brasilien gibt es Reels nun auch in Deutschland (t3n).
  • Audio Notes bei Threads: Instagram arbeitet bei Threads an sogenannten Audio Notes (Twitter), über die sich die Audiospur von Videos automatisch verschriftlichen lässt.

YouTube

  • 15-Sekunden-Videos werden nun auch bei YouTube getestet. Der Erfolg von TikTok scheint wirklich vielen Angst zu machen.

Tipps, Tricks und Apps


Header-Foto von Adam Bouse bei Unsplash