Salut und herzlich Willkommen zur 586. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute setzen wir uns ausführlich mit dem Anschlag in Halle auseinander und schauen auf die Rolle von Netz, Medien und Online-Subkulturen. Zudem halten wir die wichtigsten Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie fest und lernen, wie unfassbar stressig das Leben von YouTube-Stars sein kann. Herzlichen Dank für das Interesse an unserem Newsletter – es ist uns eine Ehre, ihn Dir schicken zu dürfen! Merci, Simon & Martin
Halle: Die Rolle von Netz, Medien und Online-Subkulturen
Was ist: Ein rechtsradikaler, antisemitischer Terrorist hat in Halle zwei Menschen ermordet. Wäre er nicht an der Holztür einer Synagoge und seiner eigenen Unfähigkeit gescheitert, hätte er wohl Dutzende Juden umgebracht.
Was daraus folgt: Das Offensichtliche: Deutschland hat ein Problem mit Rechtsextremismus und Antisemitismus. Das Social Media Watchblog ist aber kein politischer Newsletter, deshalb konzentrieren wir uns auf Aspekte, die unsere Themengebiete berühren: Netz, Medien und Online-Subkulturen.
Wie sich der Terroranschlag verbreitete: Der Mörder von Halle filme sich selbst mit einer Helmkamera und übertrug das Video auf Twitch. Den Livestream sollen dort nur eine Handvoll Menschen gesehen haben. Allerdings blieb die Aufnahme eine halbe Stunde online. Nach Angaben von Twitch sahen in dieser Zeit etwa 2200 Menschen das Video.
Einige der Nutzerïnnen luden den Stream herunter und verbreiteten ihn an anderen Orten im Netz. Schließlich landeten Ausschnitte im deutschen Primetime-TV, große Online-Medien unterboten sich mit schaurigen Schlagzeilen und zeigten Screenshots aus dem Video. (Liebe Kollegïnnen: warum?)
Was Halle mit anderen Terroranschlägen verbindet: Christchurch, El Paso, Halle – Junge, weiße Männer vernetzen sich in Online-Foren und bestärken sich in ihrem Hass auf Frauen, Ausländer und Juden. Sie bringen Menschen um, streamen ihre Taten live im Netz, werden in ihren Subkulturen dafür gefeiert und hoffen auf maximale Aufmerksamkeit.
Nach Christchurch habe ich ausführlich beschrieben, welche Rolle Facebook, Youtube und Massenmedien spielen und wie sie dazu beitragen, den Terror in die Welt zu tragen (Briefing #533). Nach El Paso habe ich gefragt, ob sich Menschen im Netz radikalisieren und wie Medien über hasserfüllte, extremistische Subkulturen (4chan, 8chan, Teile von Steam etc.) berichten sollten (Briefing #570).
Diese Analysen sind nach wie vor aktuell, und ich will nicht meinen eigenen Papagei spielen. Deshalb beschränke ich mich auf einige Gedanken, die ich mir in den vergangenen Tagen zu dem Thema gemacht habe:
- Online-Foren sind nicht das Problem. Livestreams sind nicht das Problem (netzpolitik). (Junge, weiße Männer sind übrigens auch nicht das Problem.) Niemand radikalisiert sich, weil er drei menschenverachtende Memes auf 4chan sieht.
- Aber das Netz ermöglicht es Menschen, abgeschlossene Subkulturen zu bilden, in denen sie sich immer weiter von dem verabschieden, was sie abfällig Mainstream nennen (ich würde es als Anstand und Menschlichkeit bezeichnen). Diese digitalen Stammtische sind niederschwelliger, anonymer und hemmungsloser als ihre analogen Äquivalente.
- Ich lese dort seit einigen Jahren mit. Längst nicht alle Nutzerïnnen sind rassistisch oder frauenfeindlich. Aber die radikale Meinungsfreiheit, die dort propagiert wird, scheint einen bestimmten Menschenschlag anzuziehen. Viele sind vom Leben abseits ihres Bildschirms frustriert und bestätigen sich selbst darin, dass Linke, Frauen, Muslime und Juden schuld daran sind, dass sie einsam, arbeitslos oder perspektivlos sind.
- Was mich jedes Mal aufs Neue abstößt: Wie dort Massenmorde gefeiert werden. Nutzerïnnen kommentieren Livestreams von Terroranschlägen, feuern die Täter an und beglückwünschen sie für jeden Toten.
- Ich bin kein Fan davon, Plattformen pauschal mehr Verantwortung für Inhalte aufzuhalsen. Die Entscheidung über Meinungsfreiheit gehört in die Hände von Gerichten, nicht von Unternehmen.
- Dennoch braucht es Prozesse, damit eindeutige strafbare Inhalte schneller verschwinden – insbesondere wenn bestimmte Plattformen sich der Rechtsdurchsetzung bewusst entziehen und sich weigern zu löschen.
- Terroranschläge wie der von Halle zeigen, dass Upload-Filter sinnvoll seien können, wenn sie – und das ist entscheidend – einen klar definierten Einsatzbereich haben (was bei der umstrittenen EU-Urheberrechtsreform nicht der Fall ist). Die Systeme helfen, die Verbreitung von terroristischen und extremistischen Inhalten zu beschränken, indem bekannte Fotos und Videos mit Hash-Werten versehen werden. Damit kann verhindert werden, dass Nutzerïnnen diese Inhalte erneut hochladen.
- Nach Christchurch haben Unternehmen wie Microsoft, Twitter, Facebook und Google ihr gemeinsames Vorgehen gegen Terrorvideos verstärkt. Diese Anti-Terror-Allianz scheint Früchte zu tragen: Im Vergleich zu Livestreams vergangener Anschläge verschwand das Video von Halle schneller und zuverlässiger.
- Dennoch wird es niemals gelingen, alle Uploads sofort zu entfernen. Das ist der Preis der Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit. Nutzer können Filter und maschinelle Frühwarnsysteme überlisten, indem sie Aufnahmen zerstückeln, spiegeln oder anderweitig bearbeiten. Aber offensichtlich ist es zumindest möglich, die Reichweite einzuschränken.
- Die Morde von Halle haben erneut gezeigt, dass sich Journalistïnnen von Terroristen instrumentalisieren lassen. Täter wollen Angst und Schrecken verbreiten und setzen darauf, dass Medien ihre Botschaft verbreiten. Jede Titelseite und jede Sondersendung im Fernsehen trägt dazu bei.
- Die Amokläufer und Terroristen von Columbine, München, Christchurch oder El Paso gelten in bestimmten Foren als Helden. Nutzerïnnen bezeichnen sie als Vorbilder, die sie zu Nachahmertaten inspirierten. Dazu tragen Medien bei, die sie dämonisieren, ihre wirren Pamphlete verbreiten und sich nach Massenmorden zu sehr auf die Täter fokussieren. Statt Schauergeschichten bräuchte es sachliche Analysen von Radikalisierungsprozessen, gesellschaftlichen Ursachen und globalisierten Terror in Zeiten der Digitalisierung(Zeit Online).
- Für mein Empfinden wird zu viel über die Rolle sozialer Medien und zu wenig über die Verantwortung klassischer Medien gesprochen. 2017 schrieb Bastian Berbner dazu ein Zeit-Dossier: „Wir Terrorhelfer“ (Zeit Online) sollte Pflichtlektüre für Journalistïnnen sein.
Was Politikerïnnen nun fordern: Neben mehr Maßnahmen gegen Rechtsextremismus (unbedingt), besserem Schutz für Jüdïnnen (absolut) und schärferen Sicherheitsgesetzen (nope) (Zeit Online) gibt es zwei Forderungen, die unsere Themengebiete im Watchblog berühren. Eine davon ist hanebüchen, die andere nur hanebüchen formuliert.
Hanebüchen: Mehr Online-Überwachung: Die CDU will die (von Gerichten mehrfach als verfassungswidrig verworfene) Vorratsdatenspeicherung wiederbeleben, die Kompetenzen des Verfassungsschutz ausbauen, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz verschärfen, eine Meldepflicht für Plattformen einführen und sichere Verschlüsselung aufbrechen. In der SZ erklärt Jannis Brühl, warum sich Deutschland aus diesem „Krypto-Krieg“ heraushalten sollte.
Hanebüchen formuliert: #Gamerszene: Am Wochenende schaffte es dieser Hashtag in die Twitter-Trends. Innenminister Horst Seehofer hatte gefordert, man müsse „die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen“. Dieser Tweet zeigt, dass die perfekte Antwort manchmal keine Worte braucht:
Bei allem berechtigten Spott (Spiegel), der sich am Wochenende über Seehofer ergoss, lohnt es sich aber, genauer hinzuschauen:
- Der Generalverdacht ist natürlich Unsinn. Tatsächlich spielen auffällig viele Terroristen und Amokläufer Videospiele – was sie mit 34 Millionen anderen Menschen in Deutschland verbindet. Fordert deshalb jemand, „Männer stärker in den zu Blick nehmen“, nur weil 100 Prozent der Attentäter männlich sind?
- Wir brauchen keine neue Killerspiel-Debatte. Niemand mordet, weil er in einem Computerspiel auf Pixelfiguren schießt. Bei Zeit Online beendet Lisa Hegemann die Diskussion (hoffentlich), bevor sie richtig anfängt.
- Dennoch hat Seehofer einen Punkt. Oder, wie es Volker König in seinem Blog ausdrückt: „Auch ein Heimathorst findet mal ein Körnchen Wahrheit„. Es geht nicht um „die Gamer-Szene“ – aber um einen kleinen Teil dieser Szene. Bereits vor Seehofers Pauschalverurteilung hatte Markus Böhm für Spiegel Online ausführlich analysiert, was den Terroranschlag von Halle mit Videospielen verbindet (und was nicht).
- Die Gamifizierung von Terror und Gewalt ist eine reale Gefahr. Dazu trägt eine bestimmte Gaming-Subkultur bei, in der sich frustrierte junge Männer sammeln und für ihre Probleme Feminismus und vermeintliche „Massenmigration“ verantwortlich machen. Yasmina Banaszczuk setzt sich in der Taz differenziert damit auseinander.
- Es gebe „Überlappungen zwischen Gaming-Community, weißen Nationalisten, Antifeministen und der Community der Verschwörungstheoretiker“, sagt Extremismusforscherin Julia Ebner im SZ-Interview. Sie schlägt einen Bogen zurück zur Gamergate-Bewegung und erklärt, welche Maßnahmen helfen könnten, um Radikalisierung zu verhindern.
Autor: Simon Hurtz
ARD/ZDF Onlinestudie 2019
Was ist: Die ARD/ZDF-Onlinestudie untersucht jedes Jahr aktuelle Aspekte der Internetnutzung in Deutschland. Hier die Key-Facts aus der Pressemitteilung:
- 2019 nutzen rund 90 Prozent der Bevölkerung das Internet zumindest gelegentlich.
- 71 Prozent der Befragten an, an einem normalen Tag online gewesen zu sein, 2018 waren es 67 Prozent.
- Bei den 14- bis 29-Jährigen beträgt diese sogenannte Tagesreichweite 98 Prozent.
- Mit Blick auf die Nutzung des Internets zum Anschauen von Videos, Hören von Audios oder Lesen von Texten lässt sich festhalten, dass an einem normalen Tag 41 Prozent das Internet für diese medialen Tätigkeiten nutzen. Bewegtbild liegt dabei mit 25 Prozent etwas vor Text (22 Prozent) und Audio (19 Prozent).
- Insgesamt 87 Minuten verbringt die Bevölkerung im Durchschnitt pro Tag mit medialen Inhalten im Internet. Das sind fünf Minuten mehr als 2018. Insbesonde…