Salut und herzlich Willkommen zur 570. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute beschäftigen wir uns aus gegebenem Anlass hauptsächlich mit 8chan, El Paso und der „Radikalisierung im Netz“. Zudem blicken wir auf Snapchats neue Opt-in-Ads und Facebooks Pläne, Instagram und WhatsApp neue Namen zu geben. Wir bedanken uns für das Interesse an unserer Arbeit und senden herzliche Grüße, Simon und Martin

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8chan, El Paso und die "Radikalisierung im Netz"

Was ist: Am Wochenende hat ein Rechtsterrorist in El Paso 22 Menschen erschossen. Der Massenmörder hatte seine Tat auf 8chan angekündigt und ein fremdenfeindliches Pamphlet hochgeladen. Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr hat ein Terrorist 8chan als Bühne für seine Morde genutzt und sein Gedankengut dort verbreitet.

Was das auslöste: Es folgte eine Kettenreaktion. Genauer gesagt: zwei Kettenreaktionen – eine technische, eine gesellschaftliche.

Die technischen Folgen:

  • Cloudflare-Chef Matthew Prince löste den Vertrag mit 8chan mit sofortiger Wirkung auf. Cloudflare schirmt viele große Webseiten vor Hackern ab und bewahrt sie vor DDoS-Attacken. Ohne diesen Schutz wurde 8chan zum Abschuss freigegeben.
  • Es kam, wie es kommen musste: Nach kurzer Zeit ging 8chan offline.
  • 8chan wechselte zum Domain-Registrar Epik und dessen Tochter Bitmitigate, der unter anderem die Neonazi-Webseite The Daily Stormer schützt, nachdem Cloudflare sich 2017 geweigert hatte, sie weiter online zu halten.
  • Epik und Bitmitigate wiederum mieten Technik und Server-Kapazitäten beim Anbieter Voxility. Facebooks früherer Sicherheitschef Alex Stamos machte Voxility darauf aufmerksam, dass sie indirekt 8chan helfen – woraufhin Voxility den Stecker zog.
  • In der Folge verabschiedete sich nicht nur 8chan, sondern auch The Daily Stormer und Bitmitigate gleich mit. Boom.
  • Vermutlich wird Epik erneut versuchen, 8chan eine neue Heimat zu bieten. Falls das nicht klappt, bleiben andere Anbieter (die Stamos bereits vorgewarnt hat) oder das Darknet.

Die gesellschaftlichen Folgen:

  • Am Sonntag veröffentlichte Robert Evans bei Bellingcat eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse auf 8chan. "The El Paso Shooting and the Gamification of Terror“ zeigt genau, was der Titel besagt: Foren wie 8chan erleichtern Radikalisierung und führen zu Gewalt.
  • Dutzende Medien in den USA und Deutschland griffen die Recherchen auf und berichteten über 8chan. Schlagartig rückte das Forum aus einer dunklen Nische in den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit.
  • 8chan-Gründer Fredrick Brennan bezeichnete die Plattform als Megafon für Mörder und forderte dazu auf, die Seite abzuschalten (New York Times) – einen Wunsch, dem Cloudflare ihm dann ja auch erfüllte.
  • In den USA versuchten einige Republikaner (Washington Post), die Debatte über brutale Videospiele neu aufzuwärmen, die angeblich für Massenmorde verantwortlich seien. Mancher Unsinn verschwindet nie.

Welche Fragen das aufwirft:

Radikalisieren sich Menschen im Netz? Ich bin überzeugt davon, dass abgeschottete Subkulturen wie 8chan eine radikalisierende Wirkung entfachen. Sie wirken als Brutstätte für Extremisten, wo sich junge, weiße Männer gegenseitig anstacheln. Trotzdem glaube ich, dass es unterkomplex ist (SZ), nach Terroranschlägen nur von "Radikalisierung im Netz" zu sprechen.

Letztendlich zeigt sich auf 8chan der Hass, der sich bis in die Mitte der Gesellschaft zieht (BuzzFeed). Wer die Seite dicht macht, bekämpft ein Symptom (Techdirt). Das ist wichtig, aber es reicht nicht.

Der Massenmörder von El Paso schreibt: "Dieser Angriff ist eine Antwort auf die hispanische Invasion in Texas." Donald Trump hat im vergangenen Jahr rund 2000 Facebook-Anzeigen schalten lassen (Newsweek), in denen das Wort "Invasion" auftauchte. Die USA haben noch andere Probleme als 8chan: einen Präsidenten, der ganz bewusst Hass schürt, und Waffengesetze, die jedem Zugang zu Mordinstrumenten geben (New York Times).

Wie sollten Medien damit umgehen?

Einerseits finde ich es gut, dass Journalistïnnen die Szene in den Blick nehmen. In dieser Subkultur verschwimmen die Grenzen zwischen Trollen und Hasspredigern. Spätestens seit Gamergate geht es vielen nicht mehr um harmlosen Lulz. Was auf 4chan, 8chan, Steam und einigen Subbreddits passiert, ist oft menschenfeindlich und teils auch strafbar. Öffentlichkeit ist wichtig und führt (hoffentlich) dazu, dass Ermittler, Behörden und Verfassungsschutz die Gefahr ernst nehmen.

Andererseits bin ich unsicher, was die beste Art ist, darüber zu schreiben. Ich habe Accounts in vielen dieser Foren und lese mit. Mein Eindruck: Jeder Artikel wird dort gefeiert, und je mehr Medien ihren Leserïnnen erklären, wie schlimm es auf 8chan zugeht, gern mit ein paar knalligen Zitaten garniert, damit man sich auch schön ekeln kann, desto begeisterter ist die Reaktion.

Zum Glück haben die meisten Texte, die in den vergangenen Tagen erschienen sind, auf diese Grusel-Perspektive verzichtet und 8chan erklärt, ohne zu dramatisieren. Eike Kühl (Zeit Online, Deutsch) und Emily Stewart (Vox, Englisch) zeigen, wie es gehen kann.

Nicht berichten ist keine Lösung, aber zumindest für mich selbst habe ich entschieden, so selten wie möglich über Extremisten und Terroristen zu schreiben. Ich empfehle allen Journalistïnnen die Studie "The Oxygen of Amplification“ (Data Society), in der Whitney Phillips beschreibt, wie meist rechtsradikale Trolle die mediale Aufmerksamkeit manipulieren. Sonja Peteranderl hat Philips nach den Morden von El Paso für Spiegel Online interviewt und viele kluge Antworten erhalten – unter anderem diese:

Hass-Kampagnen richten den größten Schaden an, wenn sie von Journalisten verstärkt werden – Manipulateure, aber auch Terroristen versuchen Medien oft aktiv dazu zu bringen, über sie zu berichten. Eine Hasskampagne, über die nicht berichtet wird, ist quasi fehlgeschlagen.

Warum war 8chan nicht längst offline?

Viele Menschen verstehen nicht, warum 8chan überhaupt existiert. Cloudflare hätte doch viel früher den Stecker ziehen können – vielleicht sogar müssen? Wie kann ein derart abscheuliches Forum so lange im Netz bleiben?

Ich finde es richtig, dass Prince schließlich den Vertrag mit 8chan gekündigt hat. Ich finde es aber auch richtig, dass er sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht hat. Dabei geht es nicht um Meinungsfreiheit: Kein Mensch, keine Plattform hat ein gesetzlich garantiertes Recht, von einem Cloudflare online gehalten zu werden. Das Unternehmen muss Trollen kein Mikrofon unter die Nase halten. Sie können ihren Hass an Hunderten anderen Orten ins Netz kippen. Ihre Meinungsfreiheit wird nicht beschnitten, mit Zensur hat das nichts zu tun.

Es geht um die Frage, wie die Macht im Netz verteilt ist. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ein einzelner CEO mit einem Fingerschnippen ein großes Forum offline nehmen kann. Im Fall von 8chan ist das Ergebnis begrüßenswert, aber der Weg dahin macht mir Bauchschmerzen. Wenige Unternehmen – Registrare, DNS-Provider und Server-Betreiber – kontrollieren fast die gesamte Infrastruktur des Internets. Mir wäre es lieber, wenn Prince solche Entscheidungen nicht selbst träfe, sondern Gerichte darüber urteilten. (Mir liegt das Thema am Herzen. Ich habe im Februar ein Essay dazu geschrieben (SZ), in dem ich es etwas länger und hoffentlich verständlicher erkläre.) Dieser aktuelle Tweet von Edward Snowden bringt es übrigens auf den Punkt:

Autor: Simon Hurtz

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Kampf gegen Desinformation & Hass

Die 14jährige YouTuberin Soph wurde mit Rants gegen Schwule zum „Star“. Jetzt hat YouTube sie von der Plattform verbannt. Als Reaktion darauf postete sie ein Foto von sich mit einer Waffe auf Twitter und schrieb dazu: „youtube headquarters here I come“. Wann kapieren die Kids endlich, dass das alles kein Spiel ist. YouTube Terminated The Account Of A 14-Year-Old Star Over Her Anti-Gay Video (BuzzFeed News)

Stichwort Deepfakes: Facebook, Google und Twitter wurden vom Republikaner Adam Schiff (D-Calif.) im Juli aufgefordert, ihre Pläne im Kampf gegen Deepfakes vorzulegen. Bottomline: Man sei sich des Problems bewusst, viel sagen könne man aber noch nicht. Wohl auch aus taktischen Gründen. Its an arms race. Facebook, Google, Twitter Detail How to Address Deepfake Videos (Bloomberg Government)

WhatsApp-Weiterleitung: In einer Betaversion werden Nachrichten, die häufiger als fünfmal weitergeleitete wurden, von WhatsApp mit zwei Pfeilen markiert. Das soll Nutzer quasi alarmieren, dass es sich hier um eine virale Nummer handelt und womöglich Obacht geboten ist. Gegen Fake News: WhatsApp will „oft weitergeleitete“ Nachrichten kennzeichnen (netzpolitik)

Factchecking bei Facebook ist noch nicht das, was es sein könnte – so die diplomatische Antwort auf die Frage, ob die Arbeit der mittlerweile mehr als 50 Partner etwas bringt. Genaures weiß man nicht. Der Grund: Facebook hält mit den Informationen hinterm Berg. Facebook’s fact-checking program falls short (CJR)

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C.R.E.A.M

Freiwillige Werbung: Ich bin noch nicht ganz entschieden, ob ich das clever oder maximal aufdringlich finde: Snapchat bietet jetzt bei seinen Games die Option an, freiwilliausge Werbeclips zu gucken. Der Clou: Wer Ads schaut, kriegt was dafür:

Tiny Royale players can watch ads to upgrade their weapons or double their XP. Snake Squad players can watch ads to respawn their snakes. Zombie Rescue Squad players can watch ads to double their rewards.

Read on: With opt-in ads, Snap Games is intriguing Snapchat users and advertisers (Digiday)

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"Instagram from Facebook"

… und "WhatsApp from Facebook": Bislang gedeihten WhatsApp und Instagram prächtig. Wohl auch, weil viele Nutzer die beiden Apps nicht sofort dem Hause Facebook zuordnen. Genau das soll sich aber auf Wunsch von Mark Zuckerberg nun ändern. Die Idee dabei: Mehr Stralkraft für die eigene Anwendung, respektive für das Mutterhaus an sich.

Demnach wird der Name fast überall geändert, auch in den App-Stores für Android und iOS taucht die neue Bezeichnung auf. Lediglich auf den Homescreens soll es beim ursprünglichen Titel bleiben – ein zwei- bis dreizeiliger Name hätte dort auch gar keinen Platz.

Bei der Reputation, die FB insbesondere bei Kids hat, bin ich skeptisch, dass das ein kluger Schachzug ist. Aber vielleicht geht es auch einfach nur um Politik und die drohende Zerschlagung des Konzerns. (Original: The Information $$ // Auf deutsch: SZ)

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One more thing

Drone China: Ronny hat drüben beim Kraftfuttermischwerk ein maximal surreales Video ausgegraben: Drohnen-Aufnahmen von Shenzhen. Einfach unfassbar.

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Header-Foto von Mandy Choi bei Unsplash