Salut und herzlich Willkommen zur 574. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute blicken wir ausführlich auf Facebooks neue Löschfunktion, die genau genommen gar nichts löscht, aber trotzdem ein Schritt in die richtige Richtung ist. Zudem beschäftigen wir uns u.a. mit dem Zusammenhang von Social Media und überalterten Rollenbildern, der Zukunft von Tumblr und Stories bei Spotify. Herzlichen Dank für das Interesse an unserer Arbeit, Simon & Martin

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Off-Facebook Activity: Die Löschfunktion, die nichts löscht

Was ist: Mit fast anderthalb Jahren Verspätung wird "Clear History" tatsächlich Realität – eine Funktion, die Facebook nicht nur mehrfach versprochen und immer wieder verschoben, sondern in der Zwischenzeit auch umbenannt hat. Mittlerweile heißt sie "Off-Facebook Activity" (OFA). Nutzerïnnen können damit Daten einsehen, die Facebook abseits der eigenen Plattform über sie gesammelt hat, und die Verbindung zum eigenen Konto aufheben. (Ankündigung im Facebook-Blog)

Warum das wichtig ist: Die Informationen, die Facebook von Dritt-Apps und anderen Webseiten erhält, sind reichhaltig und tragen zu noch umfassenderen Profilen bei. Nutzerïnnen können sich mit OFA zumindest einen kleinen Teil ihrer Privatsphäre zurückholen. Allerdings hält die Funktion nicht, was sie verspricht: Gelöscht wird gar nichts, nur entknüpft.

Welche Daten Facebook sammelt: Es gibt On- und Off-Facebook Activity. Auf der Plattform selbst hinterlassen Nutzerïnnen etwa Angaben zu ihrem Wohnort, zu ihrem Geschlecht, zu ihrer Arbeitsstelle. Zudem hinterlassen sie Likes und Kommentare, sie laden Fotos und Videos hoch, scrollen durch den Newsfeed und klicken auf externe Links. OFA umfasst dagegen Daten, die das Unternehmen über die sogenannten "Facebook Business Tools" aggregiert.

Mit diesen Werkzeugen hat Facebook das Web verwanzt. Es überwacht Menschen im ganzen Netz und registriert fast jeden Klick. Etliche Apps und fast alle großen Webseiten haben Like-Buttons, Social-Plugins, Facebook-Pixel oder SDKs von Facebook eingebaut. Damit schaut Facebook Milliarden Menschen beim Surfen über die Schulter.

Immerhin versichert Facebook, dass es bestimmte Daten nicht speichere. Dazu zählen etwa Angebote mit pornografischen Inhalten. Kürzlich untersuchte eine Studie mehr als 22.000 Pornoseiten. 93 Prozent übertragen Informationen an durchschnittlich sieben Drittanbieter. Drei Viertel beinhalten Tracker von Google, jede zehnte Seite schickt Daten an Facebook.

Warum OFA so spät kommt: 16 Monate Verspätung haben wenig mit Facebooks einstigem Motto zu tun: "Move fast and break things." Schnell hat sich Facebook definitiv nicht bewegt, aber wenn OFA dafür besser umgesetzt wird als so manch anderes Facebook-Feature, könnte sich das Warten trotzdem gelohnt haben.

Facebook begründet die Verzögerung mit der aufwändigen Entwicklung und technischen Schwierigkeiten. Tatsächlich liest sich die Erklärung der Vorgehensweise im Engineering-Blog relativ komplex. Man habe die Art und Weise ändern müssen, wie man Daten speichere (nicht mehr chronologisch nach Datum, sondern nach Quelle). Außerdem war es vorher nicht möglich, einzelne Einträge zu löschen. Das habe die Entwicklerïnnen vor große Herausforderungen gestellt.

Auch der zweite Grund, den das Unternehmen nennt, klingt nachvollziehbar. Facebook habe sich monatelang mit Business-Partnern, Datenschützern und Organisationen ausgetauscht, Tests mit Nutzern durchgeführt und OFA an deren Rückmeldungen angepasst. Statt die Einführung zu überstürzen, habe der Fokus darauf gelegen, ein ausgereiftes Produkt auf den Markt zu bringen.

Wo OFA zu kurz greift: Die Funktion ist ein Schritt hin zu mehr Transparenz und Privatsphäre – aber nur ein kleiner. Es gibt mehrere Einschränkungen:

  • Vorerst startet OFA nur in drei Ländern: Irland, Spanien und Südkorea. In anderen Regionen soll die Funktion "in den kommenden Monaten" freigeschaltet werden. Genauere Angaben macht Facebook auch auf Nachfrage nicht.
  • Wer OFA aktiviert, löscht gar nichts. Es wird nur die Verknüpfung mit dem eigenen Facebook-Konto aufgehoben. Facebook behält die Informationen und sammelt sie auch in Zukunft. Im Hilfebereich vermeidet Facebook folgerichtig die Begriffe "löschen" oder "entfernen", in der App selbst heißt der Button aber "Verlauf entfernen". Facebook sagt, man habe sich für diese Wortwahl entschieden, weil Nutzerïnnen das unter anderem aus ihrem Browser gewohnt seien. Tests hätten gezeigt, dass Menschen die Funktion dann besser verstünden.
  • Facebook sagt, dass sich die entknüpften Daten rückwirkend nicht mehr zuordnen lassen. Studien haben mehrfach gezeigt, dass angeblich anonyme oder pseudonyme Daten oft Rückschlüsse auf einzelne Personen zulassen. Der bekannte Sicherheitsexperte Ashkan Soltani befürchtet, dass auch Facebooks neue Funktion nicht vollständig anonymisiert.
  • OFA ändert nichts an der Menge der Werbung: Nutzerïnnen sehen weiter die gleiche Zahl an Anzeigen, nur sind die möglicherweise weniger stark personalisiert.
  • Der wichtigste Kritikpunkt: Facebook bietet OFA nur optional an, statt es einfach für alle zu aktivieren. Es lädt die Verantwortung also bei seinen Nutzerïnnen ab. In der Praxis beschäftigt sich nur ein Bruchteil mit solchen Opt-in-Lösungen. Angeblich wird Facebook mit einer Kampagne auf die neue Funktion aufmerksam machen – konsequenter wäre es gewesen, die Datensammlung per default zu begrenzen.

Ich habe Facebook gefragt, warum die Standardeinstellung nach wie vor nicht Datenschutz, sondern Datensammeln ist. Die Antwort finde ich so vielsagend, dass ich sie (fast) in Gänze zitiere (Hervorhebungen von mir):

"Connecting people with the businesses they care about is part of our mission and an important part of giving people a great experience on Facebook. Research shows that people would rather see more relevant ads. The information apps and websites choose to share with us helps us personalize people's Facebook experience, and we require businesses to notify their users before sharing it. Without sharing this information with other platforms, businesses wouldn't have an effective way to connect with customers, people's experience on the internet would degrade, and a lot of businesses would have a hard time growing".

Es zählt zu Facebook "Mission", Menschen mit Unternehmen zu verbinden? Nutzerïnnen wollen lieber personalisierte Werbung sehen? Wenn Facebook die Datensammlung begrenzt, leidet die Erfahrung der Nutzerïnnen? Facebook ist dafür verantwortlich, dass andere Unternehmen wachsen können?

¯\_(ツ)_/¯

Be smart: Verspätung hin, berechtige Kritikpunkte her – ich will auch nicht nur auf Facebook einprügeln. Es mag sein, dass OFA maßgeblich auf externen Druck, etwa des Bundeskartellamts, hin zustande gekommen ist. Dennoch: Für Nutzerïnnen ist das Ergebnis erstmal positiv, und für Facebook selbst durchaus ein gewisses Risiko.

Ich bin mir sicher, dass Facebook intern berechnet hat, wie groß die Verluste wären, wenn x Prozent der Nutzerïnnen von OFA Gebrauch machen. Ein Sprecher nannte auf Nachfrage aber keine Details. Wenn viele Menschen die Funktion nutzen, verliert Facebook einen Teil seines Datenschatzes.

Natürlich sammelt es auch auf der eigenen Plattform jede Menge Informationen und weiß so oder so mehr über seine Nutzerïnnen als fast alle anderen Unternehmen. Aber OFA trägt ausnahmsweise nicht dazu bei, die Datensammlung zu vergrößern, sondern zu verkleinern. Unabhängig davon ist es eine gute Idee, personalisierte Werbung auf Facebook zu begrenzen.

Autor: Simon Hurtz

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Social Media & Journalismus

Facebook sucht Journalisten: Facebook will bekanntlich in seiner App einen separaten Bereich für Nachrichten einführen. In Ausgabe #572 haben wir ausführlich darüber berichtet. Jetzt geht das Unternehmen noch einen Schritt weiter und erklärt, dass es für das Vorhaben auch Journalisten brauche. Anscheinend möchte FB dafür Sorge tragen, dass im neuen „News Tab“ die wichtigsten Meldungen des Tages auch wirklich zu finden sind – und nicht nur algorithmisch Sortiertes. Wer mag, kann sich hier oder dort bewerben. Die New York Times hat die ganze Geschichte. Und überhaupt: Hauptsache Facebook ist kein Medienunternehmen. Ist klar.

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Social Media & Demokratie

Hongkong: Dass Facebook und Twitter Accounts gelöscht haben, die offenkundig von Menschen aus dem Umfeld der chinesischen Regierung aufgesetzt wurden, die damit Desinformationen rund um die Proteste in Hongkong sähen wollten, haben ja wahrscheinlich alle mitbekommen, oder? Ansonsten darf ich auf mein Gespräch mit dem DLF verweisen. Wir bleiben dran und berichten in den nächsten Wochen ausführlicher.

Konservativer Bias bei Facebook? Nun, so lautete zumindest der Vorwurf, der verrückterweise 2016 seinen Ursprung bei den Trending Topics von Facebook nahm (siehe Gizmodo). Hallo Facebook News Tab! Aber zurück zum Thema: Eine von Facebook beauftrage Untersuchung durch den Ex-Senator John Kyl kann einen Bias weder finden noch ausschließen. Vielmehr wünschen sich alle Befragten mehr Transparenz beim Löschen von Inhalten, etc. Oh, ja. Da können wohl alle mitgehen. Dass aber das Audit ausgerechnet von einem Muslim-Hasser und "Fake-News"-Verbreiter geleitet werden musste, kann ich überhaupt nicht verstehen.

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Studien & Statistiken

Überalterter Rollenbilder: Eine Umfrage von Plan International Deutschland e.V. unter 1.000 jungen Frauen und Männern in Deutschland im Alter von 14 bis 32 Jahren hat ergeben: Je intensiver junge Menschen soziale Medien nutzen, desto stärker denken sie in stereotypen Rollenbildern. Das habe, so die Organisation, Auswirkungen auf ihre Lebensweise und Einstellung gegenüber Gleichberechtigung. Öhm yes. Das glaube ich sofort. Hier sind weitere Key Facts (Emojis stammen von mir):

  • 57 Prozent der jungen Männer und 35 Prozent der jungen Frauen, die täglich Social Media nutzen, sind der Ansicht, dass Frauen sich in erster Linie um den Haushalt und die Kinder kümmern sollten. 🤯 Bei den weniger intensiv Nutzenden waren es 47 Prozent (Männer) und 31 Prozent (Frauen).
  • 32 Prozent der Frauen und 52 Prozent der Männer, die täglich YouTube, Instagram und Facebook nutzen, gaben an, dass sie es in Ordnung finden, wenn Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als Männer. 😤 Im Vergleich dazu waren es bei Frauen, die weniger intensiv Social Media nutzen, 17 Prozent, bei den Männern 29 Prozent.
  • Menschen, die viel Zeit auf Instagram oder YouTube verbringen, legen mehr Wert auf klassische Schönheitsideale: 62 Prozent der Männer sagten, dass eine Frau in erster Linie schlank und hübsch sein muss. 🤦‍♂️ 37 Prozent der Frauen finden Muskeln und einen schönen Körper bei Männern wichtig. 🤦‍♀️ Bei den Befragten, die nicht täglich Social Media nutzen, waren es 46 Prozent (Männer) und 23 Prozent (Frauen).

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Empfehlungen fürs Wochenende

Zukunft von Tumblr: Dieses Interview von Matt Mullenweg, CEO von Automattic (Mutterunternehmen von WordPress & Co), nährt die Hoffnung, dass es für Tumblr wohl keinen besseren Partner als Automattic hätte geben können. Ich bin sehr gespannt, ob Mullenweg es tatsächlich schafft, Tumblr zu neuem (alten) Glanz zu verhelfen. Wer sich für die Plattform interessiert – sei es aus Nostalgie oder aus reiner Neugier – sollte das lange Interview komplett lesen / hören. Das, was Mullenweg da erzählt, lässt wirklich hoffen. (Man erkennt: ich bin ein alter Tumblr-Fan.)

Social Media Networks that Failed: Auch wenn ich Tumblr als solches nicht für gescheitert erachte, möchte ich an das Thema oben anschließen und an dieser Stelle auf einen Artikel von Gizmodo aufmerksam machen, der 12 soziale Netzwerke vorstellt, die allesamt (mehr oder weniger) in der Versenkung verschwunden sind – von Friendster über YikYak bis Vine. Nicht die allerdeepeste Analyse, aber trotzdem sehr spannend, sich das alles noch einmal vor Augen zu führen.

Mental Health Sticker: Zwei Geschwister, 23 und 21 Jahre, hatten die grandiose Idee, ein Smartphone-Case mit der Aufschrift „Social media seriously harms your mental health“ in Serie zu produzieren. Das Case gilt in der Influencer- und Fashionszene (ist das eine Tautologie ?!) bei vielen als Must-Have und wird gern für Spiegel-Selfies verwendet. So kann der Fan den Slogan prima lesen. Oh, boy, what an irony.

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Neues von den Plattformen

Facebook

Bestehende Chats in Gruppen sind ab dem 22. August schreibgeschützt. Alle Teilnehmer eines Gruppenchats können den Verlauf der Unterhaltung weiterhin ansehen, indem sie im Messenger nach dem Chat suchen. Sie können jedoch keine neuen Personen hinzufügen und keine weiteren Nachrichten in diesem Chat senden. Es ist jedoch weiterhin möglich, einen Gruppenchat mit Personen zu starten, mit denen du befreundet oder im Messenger verbunden bist.

Google

  • Zahlende G-Suite-Kunden können weiterhin Hangouts nutzen. Die Funktion wird nicht vor Juni 2020 abgeschaltet, heißt es. Vorher war von Oktober 2019 die Rede… (Google)

YouTube

  • Werbung für Kids: Speziell auf minderjährige Zuschauer zugeschnittene Werbung soll es bald nicht mehr geben: targeted ads für Kids unter 13 sollen bald Geschichte sein. Komplett verabschieden will sich YouTube aber von Werbung in der Zielgruppe nicht, ist klar. (Bloomberg)
  • Messenger am Ende: In YouTubes mobiler App konnten sich Nutzer private Nachrichten schicken. Dieser „private messenger“ wird nun abgeschaltet (9to5google). Warum das passiert, erklärt das Unternehmen nicht so richtig. Sehr zum Ärger der Kids (Techcrunch).

Spotify

  • Neue Playlist-Stories: Spotify bastelt derzeit an seiner eigenen Stories-Version. Wie das aussehen könnte, weiß Jane Manchun Wong.
  • Family-Accounts: Wo wir gerade bei Spotify sind: Künftig gibt es eine Art Parental Control bei Family-Accounts. Da kann man dann endlich Bibi und Tina blacklisten 😅 (Techcrunch)

TikTok

  • Endlich kann man auf TikTok shoppen, also sort of. TikTok testet derzeit Hashtag-Challenges, die mit e-Commerce verbunden sind. So können direkt auf der Plattform Produkte von Herstellern "entdeckt" werden – ganz wie bei Insta. Per Klick gelangt man dann zum eigentlichen Shop. Direktes Shopping auf TikTok selbst funktioniert somit noch nicht. Trotzdem spannend. Wer sehen möchte, wie das funktioniert, sucht bei TikTok nach der Challenge #TransformUrDorm (hier der Deeplink). Wer es nachlesen möchte, hier entlang. (TechCrunch)

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One more thing

Hoax auf Instagram: Muahahahahaha. Instagram hat jetzt auch endlich seinen "Ich widerspreche hiermit ausdrücklich den neuen AGBs"-Moment. Wenn aber sogar Usher, Wacka Flocka Flame und Beyonce's Mutter den Post teilen, dann muss es doch stimmen Eins!!!1111

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Header-Foto von Andre Benz bei Unsplash