YouTube vs. #allesaufdentisch: Gegen Geschwurbel helfen nur Fakten
Was ist
YouTube hat zwei Videos entfernt, die fragwürdige Aussagen über Corona-Impfungen enthielten. Es waren aber nicht irgendwelche Videos von irgendwelchen Nutzerïnnen, sondern Filme der Initiative #allesaufdentisch: Prominente Kulturschaffende sprechen dabei mit mehr oder weniger prominenten Anwälten, Wissenschaftlerinnen und Professoren, fast alle drehen sich um den Umgang mit der Corona-Pandemie.
Die Künstlerïnnen wehrten sich juristisch und bekamen vorerst Recht: Das Landgericht Köln ordnete per einstweiliger Verfügung an, die Videos wiederherzustellen. YouTube habe die Sperrung nicht ausreichend begründet. Dieser Anordnung kam YouTube nur zur Hälfte nach: Einer der Clips ist wieder online, der andere bleibt gesperrt.
Wir dröseln den Fall auf und erklären, warum wir die Sperrung inhaltlich zumindest teilweise nachvollziehen können – den Prozess aber für problematisch halten.
Welche Videos betroffen waren
- Das erste Video trägt den Titel "Angst" (allesaufdentisch.tv). Darin spricht der Schauspieler und Kabarettist Gernot Haas mit dem Neurobiologen Gerald Hüther. Der 26-minütige-Film ist mittlerweile auch wieder auf YouTube abrufbar.
- In dem Video behauptet Hüther unter anderem, dass die Impfung "nichts nütze", da auch Geimpfte das Coronavirus weiterverbreiten könnten. "Sie können sich nur davor schützen, dass Sie auf der Intensivstation landen." Diese Aussage ist falsch, die Impfung reduziert das Ansteckungsrisiko massiv und schützt in den allermeisten Fällen vor schweren Verläufen.
- Das zweite Video findet sich nur auf der Webseite der Initiatorïnnen, YouTube hat es nicht wiederhergestellt. In "Inzidenz" unterhalten sich der Sänger Jakob Heymann und der Mathematik Stephan Luckhaus von der Uni Leipzig.
- Unter anderem behauptet der Wissenschaftler, die Impfung schütze nur für einen "extrem begrenzten Zeitraum" vor der Delta-Variante. Der Großteil der Menschen, die üblicherweise den ÖPNV nutzten, sei längst immun gegen den "Wild-Typ" des Virus. Sie hätten sich infiziert, ohne es zu merken.
- "Dass durch die Impfung die Infektionskette unterbrochen wird, ist hanebüchener Unsinn", sagt Luckhaus. Als Mathematiker sei er vielleicht "etwas weniger wundergläubig" als andere Leute.
Wie YouTube die Sperrung begründete
- YouTube teilte der Initiative schriftlich mit, man habe die Videos entfernt, da sie gegen die Richtlinien zu medizinischen Fehlinformationen verstießen. Die beiden E-Mails vom 2. und 4. Oktober enthalten keine weiteren Erklärungen.
- Auch auf Nachfrage erklärte YouTube weder den Betroffenen noch Medien, welche konkreten Aussagen zur Löschung führten.
- Zusätzlich wurde der Kanal von #allesaufdentisch für eine Woche gesperrt. Das ist eine übliche Sanktion, wenn Inhalte die Gemeinschaftsstandards verletzen.
Wie #allesaufdentisch reagierte
- Die Initiative ließ YouTube durch ihren Anwalt Joachim Steinhöfel abmahnen und beantragte am Montagmorgen eine einstweilige Verfügung.
- "Wir halten die Löschungen für rechtswidrig", sagt Jeana Paraschiva von #allesaufdentisch. Sie bezweifelt, "dass Muttersprachler, die dem Inhalt sprachlich und intellektuell gewachsen sind, diese Entscheidungen getroffen haben."
Wie das Gericht seine Entscheidung begründet
- Die Richterïnnen des LG Köln gaben dem Antrag aus zwei Gründen statt. Erstens argumentieren sie, dass zwischen YouTube und #allesaufdentisch ein Vertrag geschlossen wurde, aus dem der Anspruch entstehe, Videos hochzuladen und die Infrastruktur der Plattform zu nutzen.
- Wenn YouTube diesen Vertrag aufkündige, müsse es das gut begründen. Das sei, und hier kommt der zweite Grund ins Spiel, nicht geschehen.
- Schließlich seien die beiden fraglichen Videos jeweils mehr als 20 Minuten lang, YouTube erklärte die Sperrung aber nur mit einem vagen Verweis auf die eigenen Richtlinien.
- Es sei nur bei einem kurzen Video mit einer "offensichtlichen und auf den ersten Blick erkennbaren medizinischen Fehlinformation" zulässig, den Inhalt ohne Benennung der konkreten Passage zu entfernen.
- Dabei handelt es sich aber nicht um ein abschließendes Urteil. YouTube kann gegen den Beschluss Widerspruch einlegen. Da es nur eines der beiden Videos von sich aus wieder online gestellt hat, dürfte YouTube das auch tun. Beim anderen Clip habe man nach erneuter Prüfung festgestellt, "dass er nicht gegen unsere Richtlinien verstößt".
Wie wir den Fall einschätzen
- Wir können die Entscheidung des Gerichts nachvollziehen: Tatsächlich hat YouTube sein Vorgehen nicht ausreichend begründet. Woran sich die Plattform störte, mussten sich Macherïnnen und Richterïnnen selbst zusammenreimen. Zudem hätte YouTube mehr als genug Zeit gehabt, die Sperrung besser zu erklären.
- Wir können aber auch nachvollziehen, wie YouTube zu seiner Entscheidung kam: Mindestens die Aussagen von Luckhaus stellen klare Falschbehauptungen dar, widersprechen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und verstoßen damit auch gegen YouTubes Richtlinien zu medizinischen Fehlinformationen. In seinen eigenen Worten: Sie sind "hanebüchener Unsinn".
- Mit einer etwas detaillierteren Begründung hätten wir deshalb kein Problem damit gehabt, wenn YouTube das Video gesperrt hätte. So bleibt das ungute Gefühl, dass YouTube mit seinem eigenen Geschwurbel den Schwurblern in die Hände spielt.
- Losgelöst vom Einzelfall bleibt die grundlegende Frage: Wie weit sollte das Hausrecht der Plattformen gehen? Dürfen sie eigene Regeln aufstellen, oder müssen sie sich strikt an nationales Recht halten? (Was in einem globalen Netz seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich bringt.)
- Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie gefährlich Desinformation und Verschwörungserzählungen seien können. Deshalb gibt es gute Argumente dafür, dass Plattformen auch dann eingreifen, wenn die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht überschritten ist.
- Das trifft auch auf #allesaufdentisch zu: Keine der beanstandeten Aussagen ist in Deutschland strafbar, man darf ganz legal Quatsch behaupten, auch über die Corona-Impfung.
Be smart
Mindestens zwei weitere Videos verstoßen ebenfalls gegen YouTubes Richtlinien – die Plattform weiß Bescheid und prüft unseren Informationen nach bereits:
- Die Covid-19-Impfung sei "keine Impfung, sondern ein experimentelles Gentherapeutikum", sagt der Wiener Anwalt Michael Brunner im Video "Impfpflicht" (YouTube).
- In der Beschreibung des Videos "Virusgefahr" (YouTube) mit dem österreichischen Arzt und Biologen Martin Haditsch, heißt es: "So werden Bürger direkt oder indirekt zu einem medizinischen Experiment gezwungen, nämlich sich 'spiken' zu lassen". Impfungen seien "zunehmend weniger wirksam und mit einer beispiellosen Zahl von Nebenwirkungen und Todesfällen behaftet".
Wir müssen an dieser Stelle nicht erklären, warum das nicht nur grandioser Unsinn, sondern auch gefährlicher Unsinn ist. YouTube täte gut daran, die Videos zu sperren – nur bitte mit einer etwas besseren Begründung.
Social Media & Politik
- Weg mit den Facebook-Seiten der Bundesbehörden: Der Datenschutzbeauftragte Ulrich Kelber macht mit Blick auf die aktuellen Enthüllungen rund um Facebooks Geschäftspraktiken noch einmal darauf aufmerksam, dass alle Facebook-Pages der Bundesbehörden in die digitale Tonne gehören (netzpolitik).
- Beschäftigt sich denn eigentlich mal jemand mit TikTok? Evelyn Douek gehört zu den Personen auf dieser Welt, die wirklich Ahnung haben von sozialen Medien. Wer mag, sollte ihr unbedingt auf Twitter folgen: @evelyndouek. Aber das nur als Tipp am Rande. Eigentlich möchten wir auf ihren Text bei The Atlantic aufmerksam machen: 1 Billion TikTok Users Understand What Congress Doesn’t. Darin macht sie völlig zurecht darauf aufmerksam, dass sich die (US-) Politik, wenn sie sich doch so sehr um das Wohlergehen von Kids sorgt, auch mit der Plattform beschäftigen sollte, die die Kids tatsächlich nutzen: TikTok!
Schlagzeilen
- How WhatsApp Swallowed Half The World (Gizmodo)
- Trump Asks Court To Reinstate His Twitter Account ASAP (techdirt)
- Revelead: Facebooks’s Secret Blacklist of „Dangerous Individuals and organizations“ (The Intercept)
- Countries where government authorities have investigated, arrested or convicted people for their social media posts (Axios)
Kampf gegen Desinformation
- Wie Journalisten bei Telegram gegen Falschinformationen vorgehen können: Telegrams schnelles Wachstum bereitet Journalistïnnen und Wissenschaftlerïnnen zunehmend Kopfschmerzen: viele befürchten, dass Telegram sich immer stärker als Quelle viraler Desinformation etabliert. Da es aber viel schwieriger nachzuvollziehen ist, wie sich Informationen innerhalb von Messaging-Apps verbreiten, kann eine interessierte Öffentlichkeit nur bedingt gegensteuern. Das Reuters Institute hat ein Paper dazu veröffentlicht: How journalists can address misinformation on Telegram (PDF)
- Keine Kohle für Climate Change Denial Content: Google hat angekündigt, dass es künftig keine Möglichkeiten mehr geben wird, Inhalte zu monetarisieren, die den Klimawandel leugnen, bzw. Zitat: „dem etablierten wissenschaftlichen Konsens über die Existenz und die Ursachen des Klimawandels widersprechen".
Datenschutz-Department
- Ende-zu-Ende-Verschlüsselung einfach erklärt: Wer wirklich sicher gehen möchte, dass niemand irgendwelche Nachrichten mitlesen kann, der / die sollte auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung setzen. Bei E-Mails ist das leider nicht Standard. Bei Messengern wie Signal hingegen schon. Warum das wichtig ist und wie diese Verschlüsselung funktioniert, erklären die Kollegïnnen von mobilsicher: Ende-zu-Ende-Verschlüsselung einfach erklärt.
Follow the money
- Facebook ändert Zählweise der DAU: Facebook ändert hinsichtlich einer möglichen Regulierung schon einmal die Art und Weise, wie es täglich aktive Personen misst (Bloomberg $). So sollen u.a. keine Konten mehr automatisch über App-Familien hinweg verknüpft werden.
- Twitter investiert in Avatar-Startup: Wir sind keine all zu großen Freunde von Avataren. Aber hey, manch einem mag das eine Freude bereiten. Für andere sogar recht nützlich sein, who knows. Twitter jedenfalls möchte künftig auch einen Avatar-Service anbieten (Techcrunch), hat aber keinen Bock das alles selbst zu programmieren.
Creator Economy
- Memberful macht einen auf Substack-Herausforderer: Nachdem die all zu große Substack-Revolution bislang ausgeblieben ist, mehr dazu in einer Minute, schickt sich der Bezahl-Service Memberful an, ebenfalls einen Newsletter-Service aufzusetzen (Techcrunch). Wir hatten noch keine Zeit, uns das Produkt der Patreon-Tochter näher anzuschauen. Aber eigentlich gerade auch sowieso gar keinen Bedarf – Steady, Mailchimp und WordPress funktionieren in dieser Kombi für uns ganz wunderbar.
- Horizon Creator Fund: Facebook sucht Entwicklerïnnen für VR-Inhalte. Dafür setzt das Unternehmen einen 10-Millionen-Dollar-Fund (Facebook Newsroom) auf. Konkret geht es darum, Welten für Horizon zu erschaffen. Das ist in etwa so, als würde man Kids Geld dafür geben, bei Roblox neue Welte zu kreieren. Das machen sie dort halt eh schon. Bei Facebook dann eben für Kohle.
- Twitter Spaces Spark: Twitter hat weitere Details zu seinem neuen Creator-Programm bekannt gegeben, dem sogenannten Twitter Spaces Spark Program (Newsroom Twitter). Bis zu 150 Personen erhalten in den USA nach erfolgreicher Bewerbung ein monatliches Stipendium von 2500 Dollar, kostenlose Werbung für die eigene Sache und Zugang zu neuen Funktionen. Im Gegenzug verpflichten sie sich, mindestens zwei Live-Audiogespräche pro Woche zu moderieren.
- Facebook launcht Live Audio global: Wer keine Lust hat, seine Radio-Träume bei Twitter oder Clubhouse auszuleben, kann jetzt auch bei Facebook sein Audio-Glück versuchen. Wie schreibt Ryan Broderick in seinem Newsletter (Substack) so schön:
„Months after the whole world forgot that live social audio was supposed to be the future of tech, Facebook Audio officially arrives this week."
- Der Matthäus-Effekt greift auch in der Creator Economy: Die Creator Economy könnte eine echt Chance sein: Menschen werden für ihr Tun im Internet von ihren Leserïnnen / Hörerïnnen / Zuschauerïnnen / Gruppenmitgliedern adäquat bezahlt – einige von ihnen können damit womöglich sogar ihren Lebensunterhalt bestreiten. Bislang ist diese Idee leider weiterhin nur Wunschdenken – der Großteil des Geldes geht an die immer gleichen Social-Media-Superstars (Axios).
Report, Studie, Statistik
- Piper Sandler hat sich angeschaut, welche Plattform bei Teens populär ist. Siehe da: Twitter und Facebook stinken ziemlich ab, Instagram verliert einige Prozentpunkte, TikTok belegt einen soliden zweiten Platz und Snapchat – ja, Snapchat – rangiert weiterhin an Platz 1, wenn es um die Frage des Lieblings-Netzwerks geht. Beim Engagement schneidet Instagram allerdings am besten ab. Hier geht es zur Studie (PDF).
Schon einmal im Briefing davon gehört
- YouTube Rewind is cancelled for good: Ihr erinnert euch bestimmt, dass sich YouTube für seine Rewind-Videos maximal viel Ärger eingehandelt hatte, oder? Eigentlich waren diese Best-of-Videos zum Ende des Jahres ja immer ganz nett anzuschauen – für Außenstehende jedenfalls. Die Community selbst sah sich nicht ausreichend repräsentiert. Deshalb hat YouTube nun einen Schlussstrich gezogen (@YouTubeCreator).
Neue Features bei den Plattformen
- Mach mal Pause! Wer gern freiwillig Sprachnachrichten verschickt (just don’t!), kann bald bei der Aufnahme eine Pause einlegen (wabetainfo).
- Is Instagram down? Wenn Instagram (oder Facebook) down ist, schauen die Leute gern bei Twitter oder bei Websites wie isitdownrightnow.com vorbei. Künftig möchte Instagram einen solchen Service direkt innerhalb der App anbieten (The Verge). Irgendwie ganz lustig…
YouTube
- Neue Features für Creator: YouTube testet ein paar neue Funktionen für Creator – unter anderem tüftelt das Unternehmen an einem Grafik-Feature, das direkt die besten (read: am meisten gesehenen) Parts eines Videos anzeigt (YouTube / Creator Insider).
- Automatische Captions: Englischsprachige Creator können ab sofort für Livestreams automatische Untertitel auf Englisch aktivieren. Bislang war diese Funktion YouTube-Nutzerïnnen mit mehr als 1000 Abonnenten vorbehalten: Updates to Captions and Audio Features on YouTube (YouTube Help).
- Shadow Banning für Beginner: Twitter testet jetzt offiziell eine Funktion, die es ermöglicht, bestimmte Follower auszusperren (The Verge). Wie bereits in Ausgabe #744 berichtet, können Nutzerïnnen Follower entfernen, damit sie die eigenen Tweets nicht mehr sehen können, sie aber weiterhin als Follower gelistet werden.
- Mit Thread antworten: Bislang war es nicht möglich, auf einen Tweet in Form eines Threads zu antworten. Das könnte sich bald ändern (@wongmjane).
- Warnung bevor es hitzig wird: Twitter testet einen Hinweis (9to5mac), der Nutzerïnnen vor all zu hitzigen Diskussionen warnen soll. Ähm, vielleicht kleben sie einen solchen Hinweis einfach dauerhaft oben links auf die Homepage? Oder sie werden die Trends los (@martinfehrensen)?! Das könnte auch schon helfen…
Snapchat
- Usernamen ändern: Auch bei Snapchat kann wohl bald der Nutzername geändert werden (Digital Information World). Also zumindest einmal im Jahr.
Header-Foto von Yingchou Han