Was würde ich tun, wenn es mir wirklich darauf ankäme? Mit dieser großen, radikalen Frage endete gestern unser Gespräch mit Marina Weisband. Eigentlich wollten wir "nur" von ihr wissen, wie wir als Gesellschaft lernen, besser mit sozialen Medien umzugehen. Aber weil Marina zu den smartesten Personen gehört, die wir in Deutschland an der Schnittstelle von Social Media, Politik und Gesellschaft haben, ging es schnell ums große Ganze.

Wer mag, kann das Gespräch auf unserem YouTube-Kanal anschauen, bzw. anhören. Die hier im Newsletter veröffentlichte Version wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit und Länge leicht gekürzt.

Marina Weisband ist auf den folgenden Kanälen zu finden:

Im zweiten Teil des Briefings gibt es den Überblick über die wichtigsten News der vergangenen Tage. Leider ist es uns technisch derzeit nicht möglich, Sprungmarken im Newsletter zu setzen. Sollte der Newsletter bei dir aufgrund der Länge abbrechen, dann freuen wir uns über einen Hinweis per Reply auf diese E-Mail. So oder so gibt es diese und alle anderen Ausgaben auf unserer Website: socialmediawatchblog.de.


Was würde ich tun, wenn es mir wirklich darauf ankäme?

Martin Fehrensen: Liebe Marina, herzlichen Dank, dass wir beide heute über Social Media sprechen können. Du gehörst zu denjenigen Personen, die Deutschland schon seit Jahren versuchen zu erklären, warum soziale Medien so eine große Relevanz für politische Kommunikation haben, warum soziale Medien so eine Relevanz für jeden Einzelnen von uns hat. Du machst das zum Teil in Fernsehshows und an vielen, vielen anderen Stellen. Wir machen es im Newsletter. Kommen wir voran mit dem, was wir machen? Hört uns jemand zu?

Marina Weisband: Ja, also ich glaube, was natürlich passiert ist, seit ich bei der Piratenpartei eingetreten bin und wir Twitter als parteiinternes Medium benutzt haben, ist, dass die Wirkmacht von Social Media allen mit Gewalt um die Ohren gehauen wurde. Also das kann ja nun niemand leugnen. Und das war früher so. Früher war die Lesart eher so: Ach, da sind nur ein paar Leute, das ist irrelevant. Und inzwischen sind alle auf Social Media und jetzt stehen wir vor einem völlig neuen Problem. Es geht darum zu erklären, warum es so gefährlich ist, dass unser öffentlicher Diskursraum in der Hand einiger weniger Milliardäre liegt. Und da wird die Besitzfrage immer noch nicht so richtig gestellt. Also es wird jetzt ganz viel auf dem Niveau diskutiert: Wie präsentiere ich mich als Partei richtig auf Social Media? Muss ich mehr auf TikTok? Aber wir sind noch nicht so weit, die strukturellen Fragen zu stellen. Wie kommen wir an digitale öffentliche Orte?

Martin Fehrensen: Also wir schreiben uns beim Social Media Watchblog auch schon seit Jahren die Finger wund, welche Gefahr von einzelnen Akteuren, wie zum Beispiel Elon Musk ausgehen. Wir haben frühzeitig auf die Gefahren hingedeutet, die von einer Twitterübernahme ausgehen. Dass das eigentlich eher eine digitale Raumnahme von rechts ist, mit dem Ziel, progressive Stimmen verstummen zu lassen. Jetzt haben wir die Situation, dass im Deutschen Bundestag eine in großen Teilen rechtsextreme Partei mit 20 Prozent sitzt. Weltweit sind die Rechten auf dem Vormarsch, in den USA ist die extreme Rechte mit in der Regierung, an vielen Stellen auf undemokratische Weise, also noch nicht einmal demokratisch legitimiert, mit extrem viel Macht ausgestattet. Wie bewertest du diese Situation? Lässt dich das noch ruhig schlafen?

Marina Weisband: Nein, weil ich natürlich merke, dass wir jetzt auch in einer sich selbst verstärkenden Spirale sind. Weil, und das ist das, wo ich noch nicht so ganz durchdringe, wenn ich den Leuten sage, dass die Orte, denen wir politische Meinungsfindungen machen, an denen wir Nachrichten austauschen, die auch unsere Journalistinnen und Journalisten aus den klassischen Medien nutzen für ihre Recherchen, dass diese Orte Menschen gehören, die jetzt den Knicks vor den Faschismus machen. Das wird unsere nächste Wahl massiv beeinflussen. Ich habe das Gefühl, das wollen die meisten Leute gerade noch nicht hören. Also das ist gerade sehr schwierig, weil es brennt und da gibt es Kipppunkte. Und ich glaube, dass die Wahl von Trump und das offene Bekenntnis zu ihm durch Zuckerberg, durch Musk, durch Bezos... Das war ein riesiger Kipppunkt, weil von jetzt an natürlich die Meinungsbildung weltweit durch genau diese Leute beeinflusst wird.

Martin Fehrensen: Dass Deregulierung wirtschaftlich für diese Plattformen und für die Geschäftsmodelle dahinter total viel Sinn ergibt, das liegt auf der Hand. Aber kannst du nochmal etwas erklären, weshalb Deregulierung auch für den Machterhalt von den genannten Personen, respektiven ihren Plattformen so wichtig ist?

Marina Weisband: In erster Linie haben wir es jetzt schon damit zu tun, dass zum Beispiel Moderation ausgesetzt wird. Die Moderation auszusetzen bedeutet, wir können Minderheiten von diesen Plattformen runtertreiben. Das ist ja was auf X und was jetzt auch zunehmend auf Meta-Plattformen passiert, indem wir zum Beispiel sagen, queere Leute dürfen wieder als geistig krank bezeichnet werden. Das bedeutet, das ist einfach ein Ort, an dem Minderheiten es schwerer haben. Das heißt, alleine schon deswegen kriegen wir dort einen Rechtsdrall.

Dann kann Zuckerberg zum Beispiel völlig frei Bots einsetzen, um bestimmte Meinungen zu fördern. Welche Meinungen will ein Milliardäre fördern? Natürlich Meinungen, die für Milliardäre gut sind. Genau dasselbe sehen wir auch bei Bezos. Er hat bei der Washington Post jetzt neue Regeln gemacht hat, dass Meinungskolumnen nur noch den freien Markt und das Kapital loben dürfen. Und das bedeutet, dass das, was wir an Information, Austausch, Diskurs online sehen, jetzt ein völlig anderes Weltbild darstellt. Und zwar eines, dass den Neofeudalismus, also diesen digitalen Feudalismus, in den wir jetzt reinschlittern, feiert, begünstigt, begründet und Dissens unterdrückt. Das ist der Nutzen daraus.

Martin Fehrensen: Es wird ja alles immer unter dem Schlagwort freie Meinungsäußerung, „free speech“ im amerikanischen Sinne verkauft. Da findet doch aber aktiv eine Umdeutung statt, weil diese freie Meinungsäußerung, die gilt dann absolut nicht für alle.

Marina Weisband: Orwell hat das beschrieben. Präzise. Die amerikanische Rechte benutzt ja sehr gerne Orwellian, aber das ist präzise das, was Orwell beschrieben hat. Sie sagen freie Meinungsäußerung und sie meinen meine Meinungsäußerung und nicht deine. Es ist das exakte Gegenteil von freier Meinungsäußerung. Also buchstäblich hat Musk das Wort CIS verboten auf seiner Plattform. Es zielt darauf ab, dass wir verwirrt sein sollen, dass wir unseren Augen und Ohren nicht glauben sollen. Wir müssen die Dinge aber so benennen, wie sie sind. Da ist keine Bewegung für freie Meinungsäußerung. Da ist eine Bewegung für Meinungskontrolle von rechts.

Martin Fehrensen: Wenn wir uns jetzt vor Augen führen, dass die politischen Aushandlungsprozesse zunehmend in genau diesen digitalen Räumen stattfinden: Wie und wo lässt sich denn dann vernünftig über all diese Themen sprechen, streiten und diskutieren?

Marina Weisband: Nur und ausschließlich auf wirklichen öffentlichen Räumen. Also zum Beispiel Mastodon, das ein dezentrales Netzwerk ist, das niemandem gehört, das den Nutzenden gehört. Das kann nicht gekauft werden. Es kann nicht manipuliert werden. Es hat keinen Algorithmus, der manipuliert werden kann. Und ich hoffe, zunehmend besinnen wir uns und stärken solche Netzwerke und ziehen dorthin. Und dafür braucht es aber auch europäische Rechtsprechung, die zum Beispiel eine Interoperabilität durchsetzt, dass die verschiedenen Plattformen miteinander reden, damit nicht alle Leute gefangen sind in ihrem Insta, in ihrem TikTok, sondern über Plattformen hinweg kommunizieren können. Denn sonst profitieren natürlich die größten Plattformen von Netzwerkeffekten, die User fangen. Aber wir haben jetzt schon mehrere Migrationswellen erlebt. Wir erleben gerade eine große von Twitter zu BlueSky, wobei BlueSky in seiner Struktur zwar sehr viel besser ist, aber auch nicht ganz gefeilt davon ist, in Zukunft von einem Milliardär übernommen zu werden. Und deshalb setze ich auf dezentrale Netzwerke und finde, dass wir viel mehr öffentliche Mittel investieren müssen, diese Dinge zu fördern. Denn im Moment sind das Privatleute und das sind meistens marginalisierte Menschen, die diese Strukturen und Netzwerke aufbauen.

Martin Fehrensen: Blicken wir einmal auf die Handlungsoptionen. Ich glaube, die Situation ist hinlänglich beschrieben von dir, von uns, von allen Akteuren auch im Journalismus an vielen Stellen sehr, gut erfasst. Man fühlt sich aber trotzdem auch sehr ohnmächtig und ausgeliefert. Und das ist natürlich auch genau eines der Merkmale, die diese Dynamik oder diese Strategie von rechts ausmacht, dass wir uns ohnmächtig und handlungsohnmächtig führen sollen. Was gibt es für Strategien dagegen?

Marina Weisband: Die größte Herausforderung ist, dass die Medien sich jetzt konfrontiert sehen mit einem Frontalangriff aus dem KGB-Handbuch und das ist „flood the zone with shit“. Also es geht darum, schnell, hart, kompromisslos, unfassbar absurde Nachrichten zu generieren, in einer Dichte und Geschwindigkeit, dass die Medien gar nicht mehr darauf reagieren können. Das ist das Ziel, es ist ausgesprochen. Steve Bannon hat das im Klartext so formuliert. Und genau das ist jetzt zum Beispiel das Vorgehen der Trump-Regierung. Das wird auch das Vorgehen der AfD sein. Diese Leute sind ja alle hervorragend miteinander vernetzt. Die spielen alle für das gleiche Team. Die spielen alle nach dem gleichen Handbuch. Und es geht darum, unfassbar schnell irgendwelche Nachrichten zu generieren und diesen Mechanismus auszunutzen, dass Medien Klicks wollen, dass Medien Zuschauer wollen, dass „radikal“ klickt, dass „entsetzlich“ klickt. Je entsetzlicher und schockierender jede einzelne Nachricht ist, desto weniger ist sie in der Lage uns wirklich zu schockieren, weil wir das gar nicht emotional verarbeiten können. Und schon haben wir ein schockierendes Vorgehen normalisiert und wenn irgendwann die Nachricht kommt, irgendwie alle Juden sollen wieder abgeschoben werden, dann wird das nur noch so ein, ja natürlich machen sie das, weil Obviously.

Wir sind einfach nur noch müde. Das ist das Vorgehen. Es geht darum, die Medien und die Konsumenten mürbe zu machen. Was dagegen hilft, ist, sich aus diesem 12-Stunden-Nachrichtenzyklus, den wir jetzt im Moment haben, rauszuschalten. Tatsächlich auch als Journalist, als Medienschaffender, sich rauszunehmen. Nicht diese fear of missing out zu haben, alle anderen berichten darüber und bei uns findet man nichts dazu. Egal. Egal. Ich lese euch nicht, weil ihr auch den gleichen Aufreger durchjagt wie alle anderen. Ich lese euch, weil ihr Dinge einordnet, weil ihr einen Überblick behaltet, weil ihr sagt, hey, das hier ist Faschismus. So, das brauche ich von Medien. Ich brauche nicht, er hat den Golf von Mexiko umbenannt und dann hat er Grönland gedroht und dann hat er… Das ist die Strategie. Er (Donald Trump) macht „flood the zone with shit“. Er schüchtert Leute ein. Er nimmt gerade den amerikanischen Staat auseinander. Ich brauche die Strategien, nicht die einzelnen Aufreger.

Martin Fehrensen: Es braucht Mut, sich aus dieser Dauerempörungsschleife rauszunehmen, aus dieser Vorstellung, immer abbilden zu müssen, was ist. Siehst du da wirklich die Möglichkeit, dass das in den kommenden Monaten passiert?

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