Was ist

Heute Morgen haben wir telefoniert und länger überlegt, was wir am Tag vor der US-Wahl schreiben können. Die große Herausforderung: Es gibt nicht mehr das eine Thema oder die eine Plattform, die entscheidende Rollen im Wahlkampf gespielt haben – es gibt Dutzende.

Deshalb kommt es uns wenig hilfreich vor, noch einmal im Detail nachzuerzählen:

  • was Elon Musk auf X veranstaltet (SMWB)
  • welche Milliardäre mit Trump kuscheln (SMWB)
  • wie Mark Zuckerberg Meta entpolitisieren möchte (SMWB)
  • warum Deepfakes und KI-generierte Inhalte weniger wichtig waren als befürchtet (SMWB)
  • welche Rolle TikToks Algorithmen spielen (SMWB)
  • oder wie Podcasts zum politischen Leitmedium wurden (SMWB).

All das ist wichtig – aber es ist nur ein kleiner Ausschnitt der sozialmedial vermittelten Realität.

Also haben wir entschieden, genau diese Zersplitterung zum Thema unseres Briefings zu machen. Die Beobachtung an sich ist nicht neu. Seit Jahren beschreiben wir und viele andere, wie Kommunikation und Informationsaufnahme im Netz fragmentieren. Doch der aktuelle US-Wahlkampf hat deutlicher denn je gezeigt, welche Wucht diese Entwicklung hat und welche Konsequenzen sie nach sich zieht.

Warum Öffentlichkeit nur noch im Plural existiert

Vor mehr als 100 Jahren stellte der deutsche Journalist Wolfgang Riepl eine Hypothese auf, die als das Rieplsche Gesetz bekannt wurde. Sie besagt, dass kein neues Medium ein vorhandenes vollständig verdrängt, sondern nur ergänzt. In dieser Absolutheit ist die Aussage falsch, bestimmte Formen der Informationsvermittlung sind sehr wohl komplett verschwunden.

Mit Blick auf das 21. Jahrhundert ist Riepls Beobachtung aber spannend. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind mehr neue Kommunikationskanäle und Plattformen entstanden als in den zwei Jahrhunderten davor. Verlage und Sender haben ihre Printprodukte und linearen Angebote digitalisiert, entbündelt und dauerhaft abrufbar gemacht.

Für ein paar Jahre galten Blogs als das nächste große Ding. Dann wollte Facebook die Welt in ein globales digitales Dorf verwandeln, bevor Instagram, Snapchat und TikTok die Plattformwelt fragmentierten. Bislang hat keiner der neuen Verbreitungswege einen der alten ersetzt. Die Auflage gedruckter Zeitungen schrumpft, das lineare Fernsehen verliert an Bedeutung – aber klassische Medien existieren parallel zu digitalen und sozialen.

Dabei ist Social Media nicht einfach nur eine weitere Möglichkeit, Informationen aufzunehmen und sich eine Meinung zu bilden. Jede Plattform ist ein Universum für sich. Früher sahen Menschen die Tagesschau oder lasen den Spiegel – und bekamen dabei dieselben Fakten und Kommentare präsentiert.

Im Gegensatz dazu bietet jede Plattform ein hyperpersonalisiertes Content-Bouquet, Milliarden Menschen sehen Milliarden unterschiedliche Feeds. Man informiert sich eben nicht "auf TikTok", sondern bei einer ganz bestimmten Auswahl an Influencerinnen, Medien und Creators. Je nachdem, welche Inhalte die Algorithmen auswählen, verändert sich der eigene Blick auf die Welt. Gerade erst haben Washington Post und Zeit Online mit datengetriebenen Recherchen eindrücklich gezeigt, wie stark sich TikTok-Feeds in Abhängigkeit von Gender und politischer Überzeugung unterscheiden.

Es wäre voreilig, daraus kausale Schlüsse zu ziehen. Ob und wie die Nutzung sozialer Medien die eigene Meinung oder gar das Wahlverhalten beeinflusst, ist unklar. Zumindest mit Blick auf Desinformation zeigt die Forschung, dass solche Effekte tendenziell überschätzt werden (SMWB).

Dennoch kann man festhalten: Es gibt in den USA immer weniger Menschen, deren Medienmenü sich ähnelt. Wer Times liest und CNN schaut, nimmt vergleichbare Ausschnitte der Realität wahr, die Redaktionen nach journalistischen Kriterien geprüft und ausgewählt haben. Das ist längst eine Minderheit, die Bedeutung klassischer Medien nimmt ab (Übermedien) – auch durch eigenes Verschulden (Journalist). Wolfgang Riepl hätte seine helle Freude an dem medialen Durcheinander des Jahres 2024 gehabt: Es gibt Print und Podcasts, Times und Twitch, Indie-Medien und Influencer.

An dieser Stelle kommt ein zweiter bekannter Kommunikationstheoretiker ins Spiel: Marshall McLuhan und sein Slogan "Das Medium ist die Botschaft". Genau wie bei Riepl ist diese Aussage zu absolut, trifft aber leicht abgewandelt nach wie vor zu: "Das Medium ist ein Teil der Botschaft".

2024 gibt es Hunderte verschiedene Informationskanäle. Das beeinflusst die Botschaft, die beim Publikum ankommt. Je nachdem, mit welchen Medien und auf welchen Plattformen man Zeit verbringt, wem man folgt und wie man dort interagiert, verändern sich Themen und deren Einordnung.

Warum die Fragmentierung bedrohlich ist

Wir möchten nicht zu Kulturpessimisten werden und der guten alten Zeit hinterher trauern. Zum einen ändert das nichts, zum anderen war früher ganz sicher nicht alles besser. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass es weniger Gatekeeper und mehr Vielfalt gibt.

Trotzdem beunruhigt uns die Fragmentierung, die wir wahrnehmen. Das hat mehrere Gründe:

  1. Im Idealfall arbeiten Creator, Influencerinnen und Podcaster genauso akribisch wie seriöse Journalistïnnen. Leider ist das nicht immer der Fall. Natürlich lassen auch viele Medien journalistische Standards vermissen, doch auf Instagram oder TikTok mangelt es besonders oft an Fakten und Recherche.
  2. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil Newsfluencer bei jüngeren Nutzerïnnen als glaubwürdig gelten. Sie vertrauen eher Personen als Medienmarken. Je nachdem, wem man folgt, kann das gründlich schiefgehen.
  3. Genau wie viele Creator haben auch die großen Plattformen wenig mit journalistischer Verantwortung am Hut. Sie wollen Geld verdienen und möglichst wenig Ärger haben. In einer zutiefst polarisierten Gesellschaft wie den USA entsteht dadurch eine gefährliche Dynamik, in der Moderation auf ein Minimum zurückgefahren wird (Bloomberg).
  4. Für die Existenz von algorithmischen "Filterblasen" gibt es wenig Evidenz. Klar ist aber, dass es soziale Medien Menschen extrem leicht machen, ihren Informationskonsum so zu steuern, dass sie in ihrem Weltbild bestätigt werden – teils mit passenden Fakten, teils mit Fehlinformationen. Auch hier gilt: Meta und TikTok haben nicht vollständig im Griff, was auf ihren Plattformen geschieht.

In der Summe zersplittert dadurch nicht nur das Konzept von Öffentlichkeit, sondern auch ein Grundkonsens, der wichtig für jede Demokratie ist: eine zumindest in Teilen überlappende Wahrnehmung von Fakten und Realität. Die medial vermittelten Informationshäppchen sind derart selektiv, dass sich manche Menschen nicht mal mehr auf die banalsten Dinge einigen können.

Das bereitet den Nährboden für Lügen, Gerüchte und Verschwörungserzählungen. Mit tatkräftiger Unterstützung von Superspreadern wie Elon Musk verbreiten sich kurz vor der Wahl Falschbehauptungen (NYT), Faktenchecker sind weitgehend hilflos (Newsguard). Auf Telegram formieren sich rechtsradikale Gruppen und rufen zu bewaffnetem Widerstand gegen die vermeintlich manipulierte Wahl auf (Bloomberg). Das weckt unschöne Erinnerungen an den Januar 2021.

Be smart

Wir hoffen inständig, dass wir am Donnerstag nicht darüber schreiben müssen, wie digitale Gewaltaufrufe zu analogen Ausschreitungen geführt haben (NYT). Trotz aller berechtigten Warnungen sollte man nicht vergessen, dass auch 2020 das Schlimmste befürchtet wurde. Zumindest in den Tagen nach der Wahl blieb es vergleichsweise ruhig (NYT):

So far, it appears those efforts have averted the worst. Despite the frantic (and utterly predictable) attempts from President Trump and his allies to undermine the legitimacy of the vote in the states where he is losing, there have been no major foreign interference campaigns unearthed this week, and Election Day itself was relatively quiet.

Zur Wahrheit gehört aber auch:

But the platforms’ worst fears haven’t yet materialized. That’s a good thing, and a credit to the employees of those companies who have been busy enforcing their rules.

Dieses Jahr gibt es nicht nur weniger dieser Angestellten, sondern auch weniger Willen, sich der Desinformation entgegenzustellen. Deshalb senden wir zwar keine "thoughts and prayers", aber zumindest vier fest gedrückte Daumen.


Social Media & Politik

  • Instagram will Alter mithilfe von KI verifizieren: Mittels eines sogenannten “adult classifier” soll künftig festgestellt werden, ob Userïnnen über 18 Jahre alt sind. Falls nicht, sollen direkt restriktivere Konto- und Privatsphäreeinstellungen greifen. (Bloomberg)

Follow the money

Es ist wieder einmal Zeit für Quartalszahlen. Auch wenn wir kein Finanzblog sind, so interessiert uns doch sehr, wie sich die Geschäftszahlen der Plattformen entwickeln. Hier einige Insights:

Meta

  • Meta kann Nutzerzahlen weiter steigern: 3,29 Milliarden Menschen nutzen eine der Apps aus dem Hause Meta — Facebook, WhatsApp, Instagram, Messenger, Threads — täglich. Im Jahresvergleich sind das gut 5 Prozent mehr. (Meta / PDF) Kleiner mind fuck: Von gut 8,2 Milliarden Menschen weltweit nutzen rund 40 Prozent eine App von Meta.
  • Zum ersten Mal zählt Meta in der EU mehr Instagram- als Facebook—User: 269,1 Millionen nutzen Instagram monatlich, Facebook kommt auf 260,6 Millionen Userïnnen. (Meta / Transparency)
  • Threads kommt weltweit auf 275 Millionen monatlich aktive Nutzerïnnen. An einigen Tagen seien zuletzt mehr als eine Million neue Accounts pro Tag hinzugekommen. (Meta / PDF)
  • In den Monaten Juli, August und September erwirtschaftete Meta 40,58 Milliarden Dollar Umsatz. Daraus resultierte ein Gewinn von 15,69 Milliarden Dollar.

YouTube

  • In den vergangenen vier Quartalen hat YouTube insgesamt 50 Milliarden Dollar Umsatz generiert. Das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Eigentlich gibt Alphabet gar keine separaten Zahlen für YouTube heraus. Die Freude scheint also wirklich groß zu sein. Zudem ist YouTube damit nun offiziell größer als Netflix. Last but not least geht zwar ein Löwenanteil des Umsatzes auf das Konto der Anzeigenkollegïnnen. Die Umsätze, die YouTube über Abos generiert, wachsen aber stetig.
  • 70 Prozent der Kanäle, die monatlich Videos hochladen, nutzen auch Shorts, um (neue) Zuschauerïnnen zu erreichen. (Alphabet / Investor Relations)

Snap

  • Snapchats Abo-Service Snapchat+ zählt jetzt 12 Millionen Nutzerïnnen. Mehr als doppelt so viele wie vor einem Jahr.
  • Zudem sei die Anzahl der Creator, die bei Snapchat regelmäßig posten, um 50 Prozent gestiegen. (Snap / Investor Relations)

Reddit

  • Reddit ist zum ersten Mal profitabel: Bei 348,4 Millionen Dollar Umsatz konnte das Unternehmen einen Gewinn von 29,9 Millionen Dollar erzielen. Um satte 68 Prozent konnte der Umsatz im Jahresvergleich gesteigert werden.
  • Laut CEO Steve Huffman konnte Reddit vor allem deshalb so zulegen, weil die Plattform mittels KI-Übersetzungen für so viel mehr Userïnnen zugänglich geworden sei.
  • Reddit ist 2024 bislang das sechstmeiste „gegoogelte“ Wort. (Reddit / Investor Relations)

ByteDance

  • ByteDance kommt im ersten Halbjahr 2024 insgesamt auf 73 Milliarden Dollar. Eine Steigerung um gut 35 Prozent. Wenn das Unternehmen im zweiten Halbjahr so weiter wächst, könnte es dieses Jahr Meta in Sachen Umsatz sogar übertrumpfen.
  • International kommt ByteDance auf 17 Milliarden Dollar. Ein Anstieg von mehr als 60 Prozent. Der Großteil des Umsatzes wird dabei von TikTok erwirtschaftet. (The Information)
  • Zhang Yiming, TikToks Gründer, ist jetzt mit einem Vermögen von 49,3 Milliarden Dollar reichster Chinese. (Reuters)

Next (AR, VR, KI, Metaverse)

  • OpenAI hat jetzt eine eigene Suchmaschine: ChatGPT Search. Was es damit auf sich hat und ob die Suchmaschine bereits ein Google-Killer ist, besprechen wir in einer der kommenden Ausgaben. (TechCrunch, The Verge)

Schon einmal im Briefing davon gehört

  • Substack verwandelt sich immer stärker in eine Social-Media-Plattform: Substack ist ja ziemlich gut in Eigenwerbung. Aktuell freut sich das Unternehmen im hauseigenen Blog darüber, dass die App so viele neue Abos generieren würde (Substack). Das wird schon stimmen. Allerdings ist das auch nur die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig zeigt das ja auch, wie wichtig die App mittlerweile für die Nutzung von Substack geworden ist. Eigentlich ging es ja mal darum, Newsletter zu verschicken. Das rückt mit Features wie Notes und Co aber immer stärker in den Hintergrund. Zudem gibt es vielerorts Beschwerden, dass Substack neben den Newsletter-Abos vor allem die Follow-Funktion pushen würde. Genau diese Follower aber lassen sich dann ja wieder nicht mehr zu einer anderen Plattform mitnehmen. Nun ja. Log-in lässt grüßen. Oder wie es Cory Doctorow nennen würde: Enshittification.

Neue Features bei den Plattformen

Instagram

  • Instagram hat neue DM-Features am Start, die es Kreativen leichter machen sollen, Nachrichten zu sortieren. Für Accounts mit mehreren Dutzend DM pro Tag sicherlich hilfreich. (TechCrunch)

In eigener Sache

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