Salut und herzlich willkommen zu unserer sechsten und damit letzten Takeover-Ausgabe des Sommers. Wie angekündigt, verschicken wir im Juli und August gehaltvolle Gastartikel von Menschen aus dem Watchblog-Universum. Wir überlassen unseren Gästen dabei komplett das Feld und freuen uns sehr, dass sie sich bereit erklärt haben, uns an ihrer Expertise teilhaben zu lassen. Die heutige Ausgabe kommt von Theresa Lehmann, Projektleiterin und politische Referentin bei der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin.


Throwback

Es ist 2021, Videos leben #rentfree in unserem Kopf, der Sea Shanty ist einer der ersten TikTok-Trends, der über die Plattform hinaus wochenlang rauf und runtergespielt wird. Die Plattform politisiert sich. Charli d’Amelio, die größte TikTok-Creatorïn in diesem Jahr, zeigt sich solidarisch mit Black Lives Matter, Lily Blaudszun wird in Deutschland als großes Vorbild für Politiktok gehandelt und das Gesundheitsministerium wirbt für die Coronaimpfung mit Creatorïnnen. Die Generation-Z hat den Ruf, progressiv zu sein und dieses Bild wird auch über ihre Lieblingsplattform verbreitet.

Das Versprechen von Viralität und die junge Zielgruppe sind auch für rechtsextreme Akteurïnnen interessant. Rechtsextreme Sounds sind ohne Schwierigkeiten aufzufinden und werden mit Lip-Sync-Videos verbreitet. Die Atomwaffen Division wirbt Neumitglieder an. Aus dem Umfeld der Freien Sachsen gibt es eine koordinierte Duettkette mit “Ungeimpft”-Shirts, bei der auch Triene mitmacht. Sie ist eine der bekanntesten rechtsextremen TikTok-Gesichter, nachdem sie mit einem Trendvideo über ihren Impfstatus, Sexualität und Parteivorliebe viral ging. Und Martin Sellners Account ist bereits das erste Mal gesperrt worden.

Zahlreiche AfD-Politikerïnnen haben bereits einen Account. Die damalige AfD-Jugendbeauftragte Jane Schulz postet fleißig Videos, in denen sie für deutsche Werte und ein starkes Gewaltmonopol wirbt. Nicole Hoechst gibt in Glitzerfilter gehüllte Einblicke in ihren politischen Alltag und teilt nachdenkliche Sprüche. Candy, gerade 15 Jahre und aus der Junge Alternative nimmt die jungen Nutzerïnnen mit ihrem Kanal an die Hand und liefert Einblicke hinter die Kulissen der Partei und himmelt Höcke und Weidel an. Sie richtet sich an eine Zielgruppe, die mit der Normalisierung einer in Teilen rechtsextremen Partei im Parlament aufwächst und es nicht anders kennt. 

Aber auch Unmengen anonymer Accounts finden sich, die Sharepics scheinbar direkt von anderen sozialen Medien übernehmen, hochladen und auf das 9:16 Videoformat nicht allzu viel geben. Nazikitsch meets Boomercore. Menschenfeindlichkeit trifft auf algorithmusbasierten Feed. Es ist die Trial-and-Error Phase. Man probiert sich und die Plattform aus. Die direkte Ansprache funktioniert, das Übernehmen von Trends und üblichen Formaten der Plattform in den meisten Fällen ebenfalls. Und ein weiteres wichtiges Learning macht man dieser Tage: Polarisierende Inhalte scheinen trotz ästhetischen Bruch mit der Plattformlogik das Potenzial zu haben, viral zu gehen. Und dafür muss man nicht mal monatelang einen Account aufbauen.

Es ist nicht die erste digitale Plattform, auf der Rechtsextreme als early adopter auffallen. Soziale Medien sind nicht nur ein praktisches Mittel zur Mobilisierung und Verbreitung der eigenen Standpunkte. Im Gegensatz zu kritischen Nachfragen in Interviews kann man hier weitestgehend uneingeschränkt und unwidersprochen die eigene Agenda vorantreiben. Und so zögerten extreme Rechte auch nicht, TikTok zu nutzen und sich über die Jahre eine Plattform und zielgruppenorientierte Kommunikation anzueignen. Die Metastrategie ist, alles auszuprobieren und in die Breite zu gehen. Es gibt nicht die eine Strategie, sondern viele unterschiedliche, individualisierte Ansprachen. Nach dem Motto, viel hilft viel.

Um zu verstehen warum Rechtsextreme so erfolgreich auf TikTok sind, sind nicht nur der Zeitfaktor und die damit einhergehenden Lernfortschritte entscheidend.

2024 - Mosaikrechte Kommunikationsstrategien

Heute finden sich nicht nur die unterschiedlichsten Akteurïnnen der sogenannten Mosaikrechten auf TikTok wieder und freuen sich darüber, wie ihre Reichweiten mit einer Mischung aus Alarmismus und Neid bestaunt werden. TikTok als Mittel der Propaganda hat sogar so einen hohen Stellenrang, dass über sie gesondert beim sogenannten Treffen in Potsdam gesprochen wurde. 

Ob martialischen Kampfsportcontent des Organisators der mittlerweile verbotenen Veranstaltung Kampf der Nibelungen, aktivistische Selbstinszenierung mit Pyrotechnik aus dem ehemaligen Umfeld der Identitären Bewegung oder mit Sketchen über das Feindbild Wokeness wie eingollan. Geschichtsvideos mit Katzenfiltern und revisionistischen Auslegungen finden sich neben der Verbreitung rechtsextremer Vorstellung von Geschlechterrollen beim Kochen vor der Kamera. Die Angebote variieren in ihrer Tonalität und Personalisierung. Wichtig ist nur, dass man sich gegenseitig unterstützt. Das macht die Vorsitzende der Jungen Alternative Brandenburg vor. Anna Leisten bewirbt neben dem JA-Onlineshop, auch eine Kundgebung für ihren Parteikameraden Halemba gegen den wegen Volksverhetzung und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen ermittelt wird. Auffällig ist dabei lediglich, dass die Junge Alternative dem älteren Parteikader auf TikTok noch merklich hinterherhinkt. Die erste Reihe hat scheinbar zuerst professionelle Unterstützung erhalten, während die Parteijugend viel sporadischer und weniger strategisch in ihrer Videokommunikation auftritt. Das macht sich auch bei der Reichweite bemerkbar.

Nicht so Roger Beckamp, ein Beispiel für den älteren AfD-Kader, der bereits durch ein großes Sendungsbewusstsein und Geltungsbedürfnis auf YouTube auffällig wurde. Er hat in den letzten vier Jahren mehrere Hundert Videos auf TikTok veröffentlicht. 2,8 Mio. Likes haben seine Videos insgesamt. Die Views sind häufig im fünfstelligen Bereich. Während er sich gerne mit einem Törtchen in der Hand beim Essen filmt, spricht er im Plauderton über die Notwendigkeit von Remigration. Ein neurechter Kampfbegriff für rassistische Deportationspläne. Laut eines seiner Videos schreite die „Mediterranisierung“ voran. Wobei laut Beckamp das Wetter damit nicht gemeint sei. Dabei handelt es sich auch nur um eine weitere Wortneuschöpfung für Überfremdung. In anderen Videos benutzt er das Z-Wort und versucht Stimmung gegen Sinti und Roma zu machen. Auch beliebt bei ihm ist sein konfrontatives Straßeninterviewformat. Hier lässt er nichtahnende Passanten oder Demoteilnehmer auflaufen. Während alle über Krahs Inhalte diskutieren, wird auf dem Kanal ungestört ein rassistisches Video nach dem anderen geteilt. Algospeak scheint nicht nötig, Videoinhalte wie die hier beschriebenen, werden von der Plattform nicht als Verstoß erkannt.

Memefizierung & Hatebaiting

Mit AR generierten Memefiltern und Soundmemes kann man auf TikTok blasenübergreifend Erfolg haben. Wichtig ist dabei nur, dass diese möglichst generisch sind, viele Assoziationen hervorrufen und bestenfalls noch für sich stehend Unterhaltungswert haben. Die Memekultur der Plattform ist multimodal, das heißt Schrift, Bild, Ton und weitere Effekte verschränken sich in einem Video zu einer Botschaft. So besetzt man Sounds, wie zuletzt l’amour toujours. Diese sollen als Erkennungszeichen wie auch als Provokation und Einschüchterung dienen. Teil des rechtsextremen Kulturkampfs ist es, Popkultur zu kooptieren und mit den eigenen Inhalten zu besetzen.

Der Account dieausderafd verbreitet Alice Weidel Meme Content. Veröffentlicht werden hauptsächlich Videos und Filter, welche die Politikerin in Situationen zeigen, die gänzlich unpolitisch erscheinen, in denen sie beispielsweise im Auto tanzt, stammelt oder freche Sprüche klopft. Die Postingfrequenz und Auswahl wie Erstellung der Filter erscheinen kalkuliert. Dies legt nahe, dass der Account aus ihrem professionellen Umfeld stammt und in ihre Kommunikationsstrategie einzahlt. Es lässt ihre Kritikerïnnen auf den ersten Blick unglaubwürdig erscheinen, wenn die Person, vor der sie warnen, über sich selbst lachen kann und nahbar wirkt. Weidel war bereits ein Meme, bevor sie sich dies zu eigen gemacht hat. Mittlerweile nutzt sie dies aktiv zur Selbstverharmlosung und Normalisierung. Auch andere Akteurïnnen der extremen Rechten wie der Rapper Makss Damage versuchen Inhalte zu kreieren, mit denen über die eigene Anhängerschaft hinaus interagiert wird. Der kalkulierte Tabubruch auf TikTok fällt mittlerweile unter die Bezeichnung Hatebaiting, man versucht gezielt zu provozieren und durch die Reaktionen, die darauf folgen, viral zu gehen.

Koordinierte Hasskampagnen

Koordinierte Angriffe auf Marginalisierte oder politisch Andersdenkende in der Kommentarspalte dienen ebenfalls der digitalen Raumnahme. Auf TikTok kann man zudem beobachten wie mit einschlägigen Emoji-Dogwhistles und Markierungen in der Kommentarspalte Videos in die rechtsextreme Blase gezogen werden sollen.

Auch die Stitchfunktion, wird genutzt, um progressive Creatorïnnen als Feindbild zu markieren. Antifeministische Hatefluencerïnnen versuchen, feministische und queere Creatorïnnen bloßzustellen und zu diffamieren. Um sich der Sperrung zu entziehen, werden Anhängerïnnen aufgerufen, die Videoinhalte fleißig weiterzuverbreiten. Ob Andrew Tate oder Hoss und Hopf, das Konzept verfängt und findet viele Nachahmende und Fans. 

Finanzen, Beziehungscoaching und ähnliche Angebote können inhaltlich und ideologisch die Brücke zu anderen Ungleichheitsideologien und extremem Content bilden. Es kommt nicht von ungefähr, dass Krahs bekanntestes Video in der Ansprache nicht von einem antifeministischen Onlinecoach zu unterscheiden ist. Sein Videoproduzent E. Ahrens  bezieht sich in seinem Telegram-Channel „TikTok Guerilla“ auch auf die Strategie Tates und fordert im Channel dazu auf, Inhalte crossmedial weiterzuverbreiten und die Originalvideos zu pushen.

Reclaim TikTok - aber wie?

Rechtsextreme Kommunikationsstrategien zum Vorbild zu nehmen, wie das neuerdings weitläufig gefordert wird, folgt dem Sprichwort, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Ob diese Strategie funktioniert, ist zweifelhaft. Das gilt auch für TikTok. Es überhöht Rechtsextreme nicht nur, sondern scheitert auch an der Umsetzung. Mit emotionaler Überwältigung und Falschinformationen zu punkten, kann nicht das Ziel von demokratischen Politikerïnnen sein. Politische Kommunikation erfolgreich und zeitgemäß zu gestalten, ist schlicht eine Ressourcenfrage. Es braucht Zeit, Geld und eine zukunftsweisende Politik. Überspitzt formuliert, wird der Kampf ums Parlament nicht im Lip-syncen und Tanzen entschieden.

Ein weiteres wichtiges Learning, das sich auf der Plattform immer noch etablieren muss, ist, dass man mit Stitches und Aufgreifen rechtsextremer Sounds und Memes zwar Reichweite generiert, aber auch immer dabei hilft antidemokratische Personen und Inhalte mit zu popularisieren. 

Das rechtsextreme Milieu auf TikTok ist strategisch breit aufgestellt, gut vernetzt und organisiert. Viele der Strategien sind nicht neu. Sie wurden lediglich transferiert und an die neue Plattform angepasst. Neonazis kooperieren über die Grenzen ihres eigenen Milieus mit Neurechten, Kampfsportlern, Hooligans, völkischen Siedlerïnnen, Rechtsrockerïnnen- oder parlamentarischen Rechten. Bei TikTok spielt neben Authentizität auch Nahbarkeit eine große Rolle. Diese wird gezielt durch anknüpfungsfähige Alltagssettings und direkte Ansprachen hergestellt. Ziel ist es, eine parasoziale Beziehung aufzubauen. Der breite Erfolg kam jedoch nicht über Nacht. Es wurde geübt, ausprobiert und investiert. Rechtsextreme wie Ahrens haben die Creator Economy als Interventionsfeld für sich entdeckt und streben eine offensive, digitale Raumnahme und Professionalisierung an.

Alle paar Monate versucht Martin Sellner unter Pseudonym oder als Gast auf einem anderen Kanal wieder Fuß zu fassen. Zumindest der neurechte Aktivist scheint auf TikTok  aber keinen Fuß mehr auf den Boden zu bekommen und wird so regelmäßig wie er aufploppt auch wieder gesperrt.


Infobox: Theresa Lehmann

Theresa Lehmann arbeitet als Projektleiterin und politische Referentin bei der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Seit 2015 arbeitet sie dort zu Hate Speech und digitalen Hassphänomenen. Zuletzt auf dem Interventionsfeld TikTok. Seit 2023 leitet sie ein Modellprojekt zu Digital Streetwork im audiovisuellen Format.