Vom Umgang mit Nachrichten & Social Media

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird schlimmer, die Nachrichten bedrohlicher, die Schicksale schrecklicher. Menschen haben Angst. Die Lage entwickelt sich dynamisch, wir wissen nie, was vor Ort gerade passiert.

Als ehemalige Nachrichtenjournalistin und langjährige Expertin für Social Media, Krisen und Psychologie ist meine Perspektive: Ihr müsst das nicht wissen. Ich muss es nicht wissen. Niemand von uns muss es wissen, jedenfalls nicht in der Taktung und Detailtiefe, wie es gerade passiert und erzählt wird.

Nachrichtenkonsum ist ungesund für die Psyche. Wir können ihn aber so gestalten, dass er uns wirklich informiert. Damit das funktioniert, braucht es einen bewussteren Umgang mit sozialen Netzwerken.

Um das du erläutern, schaue ich mir mal eine Nachrichten-Startseite an. Ganz oben:

  • Ein Busunglück in Bayern
  • Eine umstrittene Verfassungsreform in Belarus, die Russland stärkt
  • Nord Stream
  • Titelgeschichte: Die Flüchtlinge aus der Ukraine
  • Eins tiefer: Wirtschaftskrise, Gefechte, diplomatische Drohungen
  • Darunter folgt das sinnloseste aller Formate: die Nacherzählung einer Talkshow.
  • Und dann noch die Nachricht, dass das größte Flugzeug der Welt zerstört wurde.

Da sind eine Menge extrem wichtiger Sachen dabei – aber eben nicht nur. Da sind Gerüchte dabei. Da sind Details dabei, die man schön weitererzählen kann: Guck mal, das größte Flugzeug der Welt ist kaputt, haste gehört? Und alle diese Dinge machen die Köpfe der Nutzenden voll und sie machen es schwer, durch den Tag zu kommen. Was davon müssen wir wirklich wissen? Der Angriff hält an. Es kommen Flüchtlinge nach Deutschland, vielleicht könnt ihr etwas spenden. Mehr nicht.

Bei Nachrichten stehen sich zwei Seiten gegenüber: Auf der einen Seite stehen wir Menschen. Wir wollen informiert sein. Wir wollen Anteil nehmen. Wir wollen unsere Augen nicht vor dem Leid anderer verschließen.

Auf der anderen Seite stehen Redaktionen. Sie wollen gute Nachrichten machen. Sie wollen informieren. Sie wollen die Wahrheit schreiben, sie wollen aber auch aktuell sein. Und hier wird es schwierig. Denn Nachrichten-Redaktionen brauchen ständig neue Geschichten. Sie dürfen kein Detail auslassen, sonst setzen sie sich der Kritik aus, Dinge nicht zu erzählen. Und sie wollen die Ersten sein und wichtige Dinge auf die Telefone der Menschen pushen. Diese Push-Nachrichten signalisieren Relevanz.

Ich habe das alles selbst gemacht. Bei der Arbeit als Nachrichtenjournalistin geht es darum, die Wahrheit zu erzählen. Sie schnell zu erzählen und möglichst vollständig. Es geht auch darum, die Lage der Welt beherrschbar und überblickbar zu machen. Nachrichten sind ein Produkt und wie man das Angebot konsumiert, ist nicht Sache der Herstellenden. Das ist nicht böse gemeint, das ist einfach normal. Nachrichten und Schokoladenriegel unterschieden sich darin nur unwesentlich. Sie sind Konsumobjekte.

Wie also konsumieren wir Nachrichten klüger?

  • Lest selektiv. Der Nachrichtenticker zu einer Krise ist spannend, klar. Aber er zeigt nahezu ungefiltert, was die Nachrichtenagenturen geschickt haben. Lest lieber die großen Geschichten, die Ereignisse wirklich erklären. Oder lest Nachrichtenartikel, die sachlich beschreiben, was am Tag passiert ist.
  • Deaktiviert sämtliche Push-Meldungen. Auch die allerdringendsten. Wenn der Krieg nach direkt Deutschland käme, dann würde euch jemand Bescheid geben. Ihr braucht die Notifications dafür nicht.
  • Akzeptiert eure Machtlosigkeit. Es fühlt sich nicht gut an, aber es ist so: Die meisten von uns können nichts tun. Statt Nachrichten zu lesen, könnt ihr mal checken, wer in eurer Stadt Spenden sammelt, ob es vielleicht in der Nähe Notunterkünfte gibt, die etwas brauchen.
  • Teilt keine Nachrichten in Social Media. Ihr erwischt vielleicht den Freund, der ein Trauma aus seiner Kindheit hat. Ihr erwischt vielleicht die Freundin, die ein paar Stunden Ruhe brauchte und auf der Suche nach Zerstreuung war.
  • Wenn ihr über Nachrichten reden wollt, fragt, ob der oder die andere dazu gerade bereit ist. Wenn die Antwort Nein lautet, dann ist das okay. Ihr werdet jemand anderen finden. Oder ihr überlegt euch, ob ihr nur aufgefangen werden wollt und wenn das so ist: wer dafür qualifiziert ist.

Eure Freundinnen und Freunde haben eigene Sorgen und einige haben vielleicht gerade nicht die Kraft, euch zu trösten. Und ihr selbst dürft auch mal Nein sagen. Das macht euch nicht zu schlechteren Menschen. Es macht euch zu umsichtigen Menschen, die ihre Kraft einteilen.

Als Menschen tun wir im Leben etwas Ähnliches wie Nachrichten-Redaktionen: Wir sammeln Informationen, um die Lage für uns selbst beherrschbar zu machen. Wir erklären sie anderen, gebeten oder ungebeten, um uns damit selbst zu zeigen: Ich verstehe das. Ich habe das im Griff.

Aber wir haben es nicht im Griff. Wir haben nicht einmal Einfluss. Und das ändert sich nicht, wenn wir jede neue Information verarbeiten wollen. Das Gegenteil tritt ein: Der Stress steigt. Und mit ihm verlieren wir mehr Kontrolle über das Leben, das wir eigentlich beeinflussen können und müssen. Das Leben um uns herum.

Der Faktor Social Media

Vorab ein wenig Basiswissen über die Psyche: Ängste sind wissenschaftlich betrachtet Geschichten. Denken wir über eine Angst nach, dann entwickeln wir also eine Idee zu einer Geschichte. Es entsteht ein Was-wäre-wenn-Szenario. Und es ist frei erfunden. Ängste sind erfundene Geschichten. Sie basieren vielleicht auf realen Bedrohungen, aber sie sind Geschichten.

97 Prozent aller Ängste werden niemals wahr. Von 100 schlimmen Dingen, die wir uns ausdenken, treten im wissenschaftlichen Durchschnitt 15 ein. Zwölf von ihnen können wir deichseln, denn die Dinge, die eintreten, sind nicht zwingend die schlimmsten, nur mit dreien sind wir mindestens kurzfristig überfordert.

Das bedeutet: Wir verbringen sehr viel Zeit damit, uns um Sachen zu sorgen, die wir uns vorher selbst ausgedacht haben.

Social Media spielt bei diesem Phänomen eine wichtige Rolle. Darin sehen wir nicht mehr nur unsere eigenen Szenarien, sondern auch die der anderen. Das löst Stress aus. Wir schlafen schlechter, das Immunsystem kann nicht mehr so gut arbeiten, Verspannungen tun weh, der Puls rast und verstärkt die Nervosität erneut. Wir werden unkonzentriert.

Ich habe deshalb Anfang des Jahres Twitter deaktiviert und Instagram deinstalliert, also exakt die Plattformen, die mir unersetzlich schienen. Mein Leben ist besser geworden, weil ich mich mehr darauf konzentriere, was in meiner Welt passiert. Und weniger auf das, was andere erleben.

Bei Nachrichten ist der Umgang situativer. Zentrale Fragen:

  • Bin ich in diesem Moment bereit für Nachrichten?
  • Oder öffne ich die App nur aus Gewohnheit?
  • Möchte ich mir die Nachrichten lieber zu einem anderen Zeitpunkt ansehen?

Diese Fragen helfen, bewusster zu entscheiden, wann wir uns der Lage der Welt gewachsen fühlen.

Uns stehen mehr Informationen zur Verfügung als jemals zu vor. Das stellt uns vor eine Herausforderung: Wir können nicht alle Informationen konsumieren. Es ist objektiv unmöglich. Niemand besitzt die psychische Stabilität, die Lage der Welt im eigenen Kopf zu verwalten. Und niemand ist dazu verpflichtet.

In den Redaktionen sitzen Dutzende, manchmal mehr als hundert Menschen. Sie verarbeiten die Informationen der Welt zu Nachrichten auf deinem Display. Und das willst du allein konsumieren?

Ohne gute Strategie solltest du das gar nicht erst versuchen.


Isabell Prophet war früher Teil des Social Media Watchblogs. In ihrem Buch »Wie gut soll ich denn noch werden?!« (Goldmann Verlag) setzt sie sich mit den Auswirkungen von Social Media auf Ängste und Optimierungsdruck auseinander. Dieser Essay basiert auf Episode 54 ihres Podcasts RUSH HOUR: Vom Umgang mit Nachrichten & Social Media.


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