Was ist

Am Dienstag änderten wir spontan das Thema unseres Briefings und verschickten eine erste Analyse zu den sechs Ankündigungen, die Mark Zuckerberg in seinem Video machte. Diese Einschätzung deckt die zentralen Punkte ab und ist nach wie vor gültig.

Trotzdem beschäftigen wir uns heute erneut mit dem Thema. In der Zwischenzeit haben wir einige Gespräche geführt und viel gelesen. Jetzt versuchen wir, die langfristigen Konsequenzen abzuschätzen und die größeren Zusammenhänge aufzuzeigen. Dazu haben wir sechs Thesen formuliert:

1. Die Entscheidung ist mehr als Symbolpolitik

  • Vor zwei Tagen schrieben wir:
Zuckerberg unternimmt alles, um Trump klarzumachen: Wir sind deine Freunde. Sein Video wurde als erstes mit Trumps Lieblingssender Fox News geteilt, wo auch Metas neuer Cheflobbyist prominent auftritt. Rhetorisch und inhaltlich bewegt sich Zuckerberg voll auf Trump-Linie.
  • Wir merkten aber auch an:
Nicht alles davon ist Taktik. Zuckerberg betont seit Jahren, wie wichtig ihm Meinungsfreiheit ist. Zumindest in dieser Frage dürfte er persönlich näher bei Trump als bei Biden stehen und tatsächlich dankbar dafür sein, Metas Richtlinien wieder näher an seinen eigenen Überzeugungen ausrichten zu können.
  • Dieser Punkt ist wichtig. Natürlich kann man darüber spotten, dass der Gründer einer Seite, auf der Harvard-Studenten die Attraktivität ihrer Kommilitoninnen bewerten sollten, davon spricht, dass Meta jetzt "zu seinen Wurzeln" zurückkehre, die darin bestünden, Menschen zu befähigen, ihre Meinung frei zu äußern.
  • Trotzdem muss man Zuckerberg zugestehen, dass er mit seinen Äußerungen und Auftritten seit zwei Jahrzehnten wenig Zweifel daran lässt, dass ihm Redefreiheit persönlich wichtig ist. Er veränderte zwar immer wieder Metas Richtlinien, handelte dabei aber weniger aus Überzeugungen, sondern reagierte auf öffentlichen Druck.
  • Es gibt zwei Lesarten für Zuckerbergs Kurswechsel. Die eine lautet, dass er rein strategisch handelt und das macht, was Meta oft gemacht hat: sich opportunistisch an der Mehrheitsmeinung und dem Kurs der jeweiligen Regierung orientieren.
  • Kevin Roose bringt eine zweite Möglichkeit ins Spiel (NYT):
A different theory — one supported by conversations I’ve had with several friends and associates of Mr. Zuckerberg’s in recent months — is that the billionaire’s personal politics have shifted sharply to the right since 2020, and that his embrace of Mr. Trump may stem less from cynical opportunism than real enthusiasm.
  • Wir kennen Zuckerberg nicht und können nur die Persona beurteilen, die er öffentlich von sich zeichnet und die sich in etlichen Porträts und Büchern abzeichnet, die über ihn geschrieben wurden. Zumindest dieser Eindruck lässt die zweite Lesart plausibel erscheinen.
  • Mit Ende 20 äußerte sich Zuckerberg offen zu politischen Themen und nahm dabei klassisch liberale Positionen ein. Er schrieb Gastbeiträge in Medien und diskutierte über Migration, soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit und Demokratie.
  • Zuckerberg setzte sich mit der Organisation Fwd.US dafür ein, dass Geflüchtete ohne Papiere die US-Staatsbürgerschaft erhalten können. Seine Frau Priscilla Chan und er gründeten eine Stiftung und spendeten Hunderte Millionen Dollar, um eine faire und sichere US-Wahl 2020 zu gewährleisten.
  • Das wäre heute undenkbar. Statt mit Medien spricht Zuckerberg mit Tech-Bros und Podcastern. Er interessiert sich für MMA, legt Wert auf ein hypermaskulines Erscheinungsbild, schimpft über Wokeness und Mainstream-Medien. Kurzum: Er ähnelt eher einem Rechtslibertären als einem Liberalen.
  • Sofern dieses öffentliche Bild Zuckerbergs privaten Überzeugungen entspricht, ist Metas Richtungswechsel zumindest inhaltlich keine reine Unterwerfung vor Trump, sondern ein Triumph für Zuckerberg, der seine Plattform endlich so führen kann, wie er es selbst gern hätte.
  • (Das hätte er natürlich schon immer gekonnt, es war ihm nur den Ärger nicht wert (Atlantic). Zuckerberg ist dank seiner Aktienpakete uneingeschränkter Alleinherrscher. Wenn er jetzt von "Zensur" schwadroniert, dann meint er nicht zuletzt: sich selbst.)

2. Rhetorisch bleibt es eine würdelose Anbiederung

  • Je öfter wir das Video anschauen, desto übler stößt es uns auf. Das beginnt schon beim Wort Zensur. In fünf Minuten spricht Zuckerberg insgesamt neunmal von "censor" oder "censorship".
  • Das ist absurd. Zensur wird von Regierung ausgeübt. Private Unternehmen haben das Recht, auf ihren Plattformen auch Inhalte zu entfernen, die nicht eindeutig strafbar sind. Dafür gibt es gute Gründe. Das ist keine Zensur, sondern Moderation.
  • Fast jeder Satz wirkt wie eins zu eins aus dem MAGA-Lehrbuch entnommen. Zuckerberg schimpft über "legacy media" und "political bias". Allein die fünf Sätze über Factchecking enthalten mehr Unterstellungen und Falschbehauptungen, als wir an dieser Stelle richtigstellen können.
  • Diese Arbeit hat uns Alexios Mantzarlis abgenommen, der beim Nieman Lab erklärt, warum Zuckerbergs pauschale Vorwürfe gegen angeblich voreingenommene Factchecker wenig Substanz haben. Dazu passt die Stellungnahme von Correctiv, einem der deutschen Factchecking-Partner von Meta
  • Auch Jannis Schakarian hat Zuckerbergs Statement einem Faktencheck unterzogen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen (Netzfeuilleton) – Spoiler: Je genauer man hinsieht, desto mehr Unsinn entdeckt man.
  • Zuckerberg sagt an einer Stelle selbst, welche Absicht er verfolgt:
Fifth, we’re going to move our trust and safety and content moderation teams out of California, and our US-based content review is going to be based in Texas. As we work to promote free expression, I think that will help us build trust to do this work in places where there is less concern about the bias of our teams.
  • Natürlich ist es vollkommen absurd zu glauben, dass ein Umzug von Kalifornien nach Texas dazu führt, dass dieselben Menschen plötzlich anders arbeiten und zu anderen Entscheidungen kommen.
  • Zuckerberg geht es primär um die öffentliche Wahrnehmung. Seine Sprache und ein Teil der Ankündigungen sind bloße Show, eine Performance für Republikaner und Trump selbst.

3. Nicht alles, was Zuckerberg sagt, ist falsch

  • Eine Reihe von Menschen und Organisationen, deren Urteil wir schätzen und die politisch wenig bis gar nichts mit Trump am Hut haben, springt Zuckerberg zumindest teilweise zu Seite. Dazu zählen etwa die EFF, Mike Masnick, Ben Thompson und John Gruber.
  • Grob zusammengefasst geht die Argumentation so: Das Ende des Factcheckings in den USA wird weniger negative Auswirkungen haben als befürchtet, Community Notes könnten ein brauchbarer Ersatz sein. Metas automatisierte Systeme haben zu viele Fehler gemacht und Beiträge oder Nutzerïnnen zu Unrecht gesperrt. Deshalb ist es sinnvoll, die Filter zu entschärfen und nur noch schwere Verstöße automatisiert zu moderieren.
  • Wir stimmen nicht allen Punkte zu, halten die verlinkten Erwiderungen aber für gute Denkanstöße. Tatsächlich war Metas Content-Moderation außer Kontrolle geraten. Immer wieder wurden auch Journalistïnnen und LGBTQ-Inhalte fälschlicherweise blockiert.
  • Unserer Meinung nach sollte die Antwort nicht weniger Moderation lauten, sondern bessere Moderation. Wir stimmen Zuckerberg aber zumindest zu, dass das bisherige System dringend überarbeitet werden musste.

4. Redefreiheit wird pervertiert

  • Die Zusammenarbeit mit Faktencheck-Organisationen in den USA läuft in den kommenden Monaten aus. Für die EU gibt es Meta zufolge keine "unmittelbaren Pläne" für ein Ende des Programms. Unsere Lesart: Die laufenden Verträge werden noch erfüllt, danach ist Schluss.
  • Die neuen Gemeinschaftsstandards gelten ab sofort und auch in Deutschland. In Metas Transparency Center kann man über ein Änderungsprotokoll genau nachverfolgen, welche Sätze weggefallen sind und was neu dazugekommen ist.
  • Im ersten Absatz streicht Meta den Satz, dass digitale Hassrede zu analoger Gewalt führen kann – genau das, was Trump am 6. Januar 2021 bewiesen hatte. Unter anderem darf man Frauen als Haushaltsgegenstände verunglimpfen und Homosexuelle als psychisch krank bezeichnen.
  • Für Zuckerberg ist das Redefreiheit. Endlich dürfen Menschen wieder sagen, was sie denken.
  • Tatsächlich werden die Änderungen genau das Gegenteil bewirken. Angehörige von Minderheiten werden Bedrohungen und Beleidigungen ausgesetzt, die dazu führen werden, dass sich Menschen aus sozialen Medien zurückziehen.
  • Indem Meta die Grenzen des Erlaubten nach Rechtsaußen verschiebt und Angriffe auf Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung erlaubt, verlieren Facebook und Instagram an Vielfalt. Die Betroffenen werden verstummen, die Pöbler bleiben zurück.
  • Grenzenlose Redefreiheit ist zumindest auf digitalen Plattformen ein Oxymoron. Meinungsfreiheit bedeutet auch, Menschen ohne Lobby zu schützen. Zuckerberg scheint andere Prioritäten zu haben (AlgorithmWatch):
Zuckerberg verbündet sich mit Leuten, die nicht viel von Redefreiheit halten. Elon Musk hat die autoritäre Zensur in Indien und der Türkei unterstützt (und hält Daten zurück, mit denen sich staatliche Zensurmaßnahmen nachverfolgen ließen), die Algorithmen auf X scheinbar so verändert, dass sie politisch rechte Inhalte bevorzugen und (mehrfach) versucht, kritische Organisationen zum Schweigen zu bringen. Der US-Kongressabgeordnete Jim Jordan hat Unternehmen für ihre Entscheidung angegriffen, nicht auf Plattformen zu werben, die von rechten Inhalten überschwemmt werden. Trump selbst hat gesagt, dass Zuckerberg für die Art und Weise, wie er seine Plattform betreibt, im Gefängnis sitzen sollte. Diese Leute interessieren sich nur dann für die freie Meinungsäußerung, wenn es ihren politischen Ansichten nützt. Wenn das nicht der Fall ist, greifen sie sie an.

5. Wir nähern uns der Broligarchie

  • Man könnte Zuckerbergs Video als personalisierte Werbung betrachten, deren Zielgruppe genau eine Person umfasst: Donald Trump. Das Video wurde zuvor mit Trumps Hofsender Fox News geteilt, zudem sollen seine Mitarbeiter einen Hinweis bekommen haben, was Zuckerberg ankündigen wird.
  • Metas Kampagne scheint die gewünschte Wirkung erzielt zu haben. Bei Fox News lobte Trump den Kurswechsel und sprach von einer "exzellenten Präsentation". Als MAGA-CEO ist Zuckerberg offenbar überzeugend.
  • Auf einer Pressekonferenz fragte ein Reporter, ob Trump glaube, dass Zuckerberg gehandelt habe, weil Trump ihn zuvor mehrfach bedroht hatte. Dessen Antwort: "Probably". Er hat vermutlich recht.
  • Wir halten fest: Im Weißen Haus sitzt bald ein strafrechtlich verurteilter Rassist mit faschistischen Tendenzen, der seine politischen Gegner mit Gewalt bekämpfen möchte und anderen Ländern bereits vor seiner Amtseinführung mit Eroberung droht. Trump umgibt sich mit einem Club aus Männern, deren wichtigste Qualifikation darin besteht, dass sie ihm zuvor in den Hintern gekrochen sind.
  • In Trumps Schattenkabinett sitzt der reichste Mann der Welt, der mehrere Unternehmen kontrolliert, über die er Geopolitik und Kommunikation massiv beeinflussen kann.
  • Jetzt will auch noch der drittreichste Mann der Welt mitspielen. Praktischerweise herrscht er über die beiden größten digitalen Plattformen und kann allein entscheiden, welche Meinungen dort Reichweite erhalten. 2025 wird das Jahr, in dem die Welt zu spüren bekommt, was die Broligarchie in den USA anrichtet.

6. Ein transatlantischer Tech-Konflikt bahnt sich an

  • Wir zitieren Zuckerberg:
Finally, we’re going to work with President Trump to push back on governments around the world. They’re going after American companies and pushing to censor more. The US has the strongest constitutional protections for free expression in the world. Europe has an ever-increasing number of laws, institutionalizing censorship, and making it difficult to build anything innovative there.
  • Diese Kritik am Digital Services Act der EU ist absurd. Das Gesetz hat Schwächen, ist aber keine institutionalisierte Zensur. Der DSA verpflichtet große Plattformen zu Transparenz, angemessenen Risikoanalysen und Strukturen, die es ermöglichen, strafbare Inhalte schnell zu entfernen sowie auf Beschwerden wegen zu Unrecht gesperrter Beiträge zu reagieren.
  • Ironischerweise hat Meta in seinen DSA-Risikoberichten auf die Erfolge seines eigenen Factchecking-Programms verwiesen. Falls Meta die Zusammenarbeit in der EU einstellt, müsste man also angemessenen Ersatz etablieren. Die EU dürfte eher skeptisch sein, dass die Community Notes diesen Zweck erfüllen.
  • Unabhängig davon bahnt sich ein größerer Konflikt an. Musk schimpft seit Jahren über Regulierung und angeblicher Zensur in der EU. Auch Trump hat sich mehrfach kritisch über die europäischen Digitalgesetze geäußert. Angeblich schade die EU bewusst US-Unternehmen.
  • Wir befürchten, dass sich die unterschiedlichen Positionen bei der Tech-Regulierung in den kommenden Jahren zu einem geopolitischen Streit auswachsen könnten. Musk, Zuckerberg und weitere Silicon-Valley-Fürsten werden Trump weiter einflüstern, dass die EU aus bösem Willen handle und es seine patriotische Pflicht sei, die Interessen der US-Konzerne zu verteidigen.
  • Vielleicht ist der aktuelle Vorschlag einiger Grünen-Politikerïnnen, eine öffentlich-rechtliche Alternative zu den US-Plattformen aufzubauen, doch nicht so utopisch, wie er wirkt (ZDF).
  • (Zugegeben: Wir bezweifeln stark, dass sich eine solche europäische Social-Media-Plattform langfristig etablieren könnte. Aber wir würden es uns wirklich wünschen.)

Social Media & Politik

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