Wir laden nächste Woche unsere Batterien etwas auf. Die 1023. Ausgabe unseres Newsletters erscheint dann in der Woche nach Ostern 🐰
Was ist
Hurra, hurra, der Koalitionsvertrag ist da. Zumindest am zweiten Teil des Satzes besteht kein Zweifel: FragDenStaat sei Dank lassen sich die gesamten 146 Seiten nachlesen, seit sich Union und SPD gestern Mittag geeinigt haben. Fraglich ist aber, ob der Inhalt des Papiers Anlass für Euphorie gibt.
Wir haben den Großteil des Koalitionsvertrags gelesen und haben viele Fragen. Da wir aber kein Watchblog für Asylrecht, Klimaschutz und Sozialpolitik sind, ärgern wir uns an anderer Stelle darüber. In diesem Newsletter möchten wir stattdessen einige Gedanken zu den Passagen teilen, die der Vertrag zu unseren Kernthemen enthält – und auch zu den Leerstellen.
Trotz des beträchtlichen Umfangs ist ein Koalitionsvertrag nur eine Absichtserklärung, die an vielen Stellen vage bleibt. Manche Vorhaben werden nicht umgesetzt werden, dafür wird es Fortschritte an anderer Stelle geben, die bislang gar nicht schriftlich fixiert wurden. Deshalb sparen wir uns lange Analysen und belassen es für den Moment bei ersten Beobachtungen. Vieles davon wird ohnehin von der Realität überholt werden.
Trotzdem ermöglicht das Papier Einschätzungen, welche Schwerpunkte die neue Bundesregierung legen möchte. Einige erscheinen uns sinnvoll, über andere wundern wir uns, und manche Stellen würden wir am liebsten jetzt schon streichen.
The Good
- Das Informationsfreiheitsgesetz bleibt bestehen: Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass die Union das IFG abschaffen möchte (FragDenStaat). Das wäre ein verheerendes Signal für Presse- und Informationsfreiheit gewesen. Vielleicht lag es am Widerstand der SPD, vielleicht an der vehementen Kritik und einer Petition mit mehr als 430.000 Unterschriften (Campact) – die Forderung hat es jedenfalls nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Stattdessen heißt es, man wolle das Gesetz "mit einem Mehrwert für Bürgerinnen und Bürger und Verwaltung reformieren". Was das genau bedeutet, bleibt unklar, doch allein das Bekenntnis zum IFG ist ein gutes Signal. Noch besser wäre es, wenn die Koalition sich gleich ein umfassendes Transparenzgesetz vorgenommen hätte, für das die Zivilgesellschaft bereits einen Entwurf vorgelegt hat. Das dürfte mit der Union jedoch unwahrscheinlich bis unmöglich sein.
- Bekenntnis zum DSA: An zwei Stellen findet das Digitale-Dienste-Gesetz der EU Erwähnung. Zum einen im Kapitel zu demokratischer Resilienz: "Wir setzen uns in der EU dafür ein, radikalisierungsfördernde Algorithmen im DSA stärker zu regulieren." Zum anderen plädieren Union und SPD beim Abschnitt zum Umgang mit Desinformation für eine stringente Umsetzung und Weiterentwicklung, systemisches Versagen müsse Konsequenzen haben. Angesichts des Drucks, den Donald Trump und US-Konzerne gerade aufbauen, ist dieses Bekenntnis wichtig. Allerdings kann es nur ein Anfang sein. Für eine konsequente Umsetzung und Überwachung der Vorgaben benötigt der bei der Bundesnetzagentur angesiedelte Digital Services Coordinator mehr Budget und Personal.
- Einsatz für ein freies und offenes Netz: Mit Blick auf die USA hätten diese Sätze gern noch etwas deutlich ausfallen dürfen – aber hey, immerhin: "Wir setzen uns für den Erhalt des freien, fairen, neutralen und offenen Netzes ein. Das ist unsere Vision für ein digitales Zeitalter, in dem wir souverän, sicher und wettbewerbsfähig agieren – zum Wohl unserer Gesellschaft, zum Schutz demokratischer Werte und für Wachstum und Wohlstand." Ob die "verpflichtende Identifizierung von Bots" höchste Priorität haben sollte, bezweifeln wir aber.
- Das Förderprogramm "Demokratie leben" wird fortgesetzt: In den vergangenen Wochen hat die Union mit Anfragen und Äußerungen deutlich gemacht, dass sie viele zivilgesellschaftliche Organisationen für verzichtbar hält und ihre Förderung am liebsten abschaffen würde. Das hätte etliche NGOs getroffen, deren Arbeit gerade wichtiger ist denn je, auch im Bereich digitaler Grundrechte und Demokratie. Der Koalitionsvertrag hebt nun explizit "gemeinnützige Organisationen, engagierte Vereine und zivilgesellschaftliche Akteure als zentrale Säulen unserer Gesellschaft" hervor. Das Bundesprogramm "Demokratie leben" werde zwar unabhängig geprüft, aber fortgesetzt.
- Positive Signale für Journalismus: Neben der Beibehaltung des IFG enthält der Koalitionsvertrag einige weitere vielversprechende Sätze. Unter anderem sollen Journalistïnnen leichter Auskunftssperren im Melderegister erwirken können, zudem soll die Anti-SLAPP-Richtlinie der EU zeitnah umgesetzt werden, um Einschüchterungsklagen zu verhindern. Vage bleibt dagegen die Formulierung zur Gemeinnützigkeit journalistischer Angebote, bei der man "Rechtssicherheit" schaffen möchte, ohne genauer darauf einzugehen, was das bedeutet. Auch die Prüfung einer "Abgabe für Online-Plattformen, die Medieninhalte nutzen" löst bei uns wenig Euphorie aus und erinnert eher an das gescheiterte Leistungsschutzrecht oder fragwürdige Gesetze in Australien und Kanada.
- Zweiter Anlauf für ein Digitales Gewaltschutzgesetz: Die Ampel hat es nicht geschafft, ein Gesetz gegen digitale Gewalt auf den Weg zu bringen. Die neue Bundesregierung geht dieses wichtige Vorhaben erneut an und nennt dabei zumindest auf dem Papier einige sinnvolle Eckpunkte. Zudem sollen insbesondere Frauen besser geschützt werden, etwa vor Stalking mit GPS-Trackern und Spionage-Apps.
- Ein Digitalministerium könnte sinnvoll sein: Die Bundesregierung schafft ein Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung (Heise, Handelsblatt). Zuschnitt und Zuständigkeiten sind unklar, eines kann man aber jetzt schon mit Sicherheit sagen: Die Herausforderungen sind gewaltig, jahrzehntelange Versäumnisse werden sich nicht allein durch die Schaffung eines eigenen Ministeriums aufholen lassen. Die Bündelung könnte aber dabei helfen (AlgorithmWatch):
Deutschland bekommt ein Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung. Das sind gute Nachrichten, denn die gesellschaftlichen Herausforderungen der digitalen Transformation haben sich in den letzten Jahren nur so aufgetürmt. Dabei braucht es allerdings eine klare gemeinwohlorientierte Orientierung. So sollen laut des Koalitionsvertrags Verwaltungsprozesse mit Künstlicher Intelligenz automatisiert und beschleunigt werden. Was dabei schief gehen kann, zeigten in den letzten Jahre zahlreiche Beispiele aus europäischen Nachbarländern. Die Voraussetzungen für den erfolgreichen KI-Einsatz in der öffentlichen Hand sind Transparenz, Teilhabe und eine wirksame Grundrechtsfolgenabschätzung. Außerdem erhoffen wir uns, dass das neue Ministerium weitere Aufgaben übernimmt, die die gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung betreffen.
The Bad
- KI überall und nirgends: Im Koalitionsvertrag wimmelt es von "KI" und "Künstlicher Intelligenz". Dabei wird aber gar nicht ausformuliert, was genau damit gemeint ist und was damit erreicht werden soll. Teils zeugen die Formulierungen von unkritischer Technikgläubigkeit. Unter anderem möchte man eine AI-Gigafactory aufbauen und eine "KI-Offensive mit einem 100.000-GPU-Programm" starten. Vielleicht wäre ein Blick in die USA sinnvoll: Dort reduziert Microsoft gerade die Investitionen in Rechenkapazitäten (AP), auch in China wurden Milliarden für KI-Rechenzentren ausgegeben, die nun ungenutzt bleiben.
- Keine Reaktion auf Musk und Zuckerberg: Ja, es gibt immerhin ein vorsichtiges Bekenntnis für ein offenes Netz. Wir hätten uns aber gewünscht, dass die künftige Bundesregierung klarstellt, wie dringend es Alternativen zu den dominanten Plattformen benötigt. Der Satz "Die Entwicklung offener europäischer Plattformmodelle begrüßen wir" ist zu dünn. Erst gestern wurde die Petition "Save Social" mit knapp 260.000 Unterschriften im Bundestag übergeben (Digitalcourage), die soziale Netzwerke als demokratische Kraft retten will. Anfang März unterzeichneten mehr als 75 Organisationen und Bündnisse einen offenen Brief, der Plattformkontrolle und eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung forderte (Digitale Gesellschaft). Dieses wichtige Anliegen hätte prominenter im Koalitionsvertrag auftauchen dürfen. Wir wiederholen an dieser Stelle unsere konkrete Forderung: Demokratische Abgeordnete, Behörden und Ministerien sollten sofort aufhören, auf X zu kommunizieren – sonst legitimieren sie die Plattform eines Feindes der Demokratie (SMWB).
- Datenschutz "im Interesse der Wirtschaft": Die Zuständigkeiten im Bereich der Datenschutzaufsicht sollen überarbeitet werden. Stutzig macht uns dabei folgende Formulierung: "Wir nutzen alle vorhandenen Spielräume der DSGVO, um (…) beim Datenschutz für Kohärenz, einheitliche Auslegungen und Vereinfachungen für kleine und mittlere Unternehmen zu sorgen." Man strebe eine Bündelung der Zuständigkeiten und Kompetenzen bei der Bundesdatenschutzbeauftragten "im Interesse der Wirtschaft" an. Datenschutz um jeden Preis ist kein Wert an sich, das klingt aber nach potenziell problematischen Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
- Verschlüsselung nur mit Sternchen: Die ersten beiden Sätze klingen sinnvoll: "In einer zunehmend vernetzten Welt gewährleisten wir allen die digitale Teilhabe und stärken die Barrierefreiheit. Wir bekämpfen Diskriminierung im digitalen Raum und schützen digitale Grundrechte." Dann folgt auf Seite 69 jedoch eine Formulierung, die uns Sorgen bereitet: "Grundsätzlich sichern wir die Vertraulichkeit privater Kommunikation und Anonymität im Netz." Die Einschränkung zu Beginn lässt sprichwörtlich eine Hintertür offen, um Ende-zu-Ende-Verschlüsselung einzuschränken und etwa die Chatkontrolle auf EU-Ebene zu unterstützen.
The Ugly
- Innere Sicherheit als Argument für ansatzlose Massenüberwachung: Vorratsdatenspeicherung, Videoüberwachung, Gesichtserkennung, biometrische Internetfahndung, Staatstrojaner: Das ist nur ein Teil der Maßnahmen, die Schwarz-Rot einführen möchte, um das "Spannungsverhältnis zwischen sicherheitspolitischen Erfordernissen und datenschutzrechtlichen Vorgaben" neu auszutarieren. Dabei will man alle verfassungsrechtlichen Spielräume ausschöpfen – das weckt üble Erinnerungen an frühere Überwachungsgesetze, die regelmäßig von den Karlsruher Richterïnnen kassiert wurden. Wir verweisen an dieser Stelle auf den Kommentar des Chaos Computer Clubs, der angemessen drastisch ausfällt (wir stimmen der pauschalen und polemischen Ablehnung des "ganzen KI-Quatsches" nicht zu, schließen uns aber den meisten Kritikpunkten an):
Der Koalitionsvertrag, den die schwarz-schwarz-rote Regierung abschließen will, strotzt so vor Überwachungsvorhaben, dass jeder Einzelne betroffen sein wird. Ob man im Netz kommuniziert, Auto fährt oder Fotos mit Gesichtern ins Netz stellt: All das soll massenhaft aufgezeichnet und bei Bedarf ausgewertet werden. (…)
Die angehende Regierung wirft ohne Not ein Konzept über Bord, das uns bisher vor den widerlichsten Auswirkungen des Überwachungskapitalismus noch einigermaßen Schutz bieten konnte. Doch die informationelle Selbstbestimmung ist ein Grundrecht und steht auch für freidrehende geschichtsvergessene Überwachungsgläubige gar nicht zur Disposition. Daran müssen wir sie wohl erinnern.
Dig Deeper
Anna Biselli, Chris Köver, Daniel Leisegang, Ingo Dachwitz, Markus Reuter, Martin Schwarzbeck und Sebastian Meineck haben binnen weniger Stunden eine umfassende Analyse des Koalitionsvertrags aus netzpolitischer Sicht geliefert. Wir danken den Kollegïnnen von Netzpolitik und empfehlen ihren hilfreichen Überblick.
Empfehlungen
Features
YouTube
- YouTube weitet sein Testprogramm aus, um KI-generierte Inhalte mit dem Aussehen bekannter Personen besser zu erkennen und zu verwalten. Zudem unterstützt die Plattform das „NO FAKES ACT“-Gesetz gegen täuschende KI-Repliken von Stimme oder Aussehen.(YouTube)
- Instagram führt neue Schutzmaßnahmen für Teenager ein: Unter 16-Jährige dürfen ohne Zustimmung der Eltern nicht live gehen oder den Nacktschutzfilter deaktivieren. Solche Spezielle Teen-Accounts gibt es bald auch für Facebook und Messenger. (Meta)
- Instagram testet offenbar still und leise sogenannte „gesperrte Reels“, die Zuschauer nur mit einem Code und einem Hinweis entsperren können. Engagement!!! (Instagram / Design)
- Instagram will zur Suchmaschine werden. Immer mehr Teenager nutzen TikTok zur Produktsuche, weil sie dort schnell Empfehlungen von Gleichaltrigen finden: Influencerïnnen gelten zudem oft vertrauenswürdiger als klassische Werbeanzeigen. Da möchte Instagram künftig stärker mitmischen und bohrt daher laut Insta-Boss Mosseri die Suchfunktion weiter auf. (YouTube / Build Your Tribe)
Threads
- Threads arbeitet daran, dass Userïnnen ihrem Profil mehrere Links hinzuzufügen können. (Social Media Today)
Wordpress
- WordPress.com bietet jetzt einen kostenfreien KI-Website-Builder. (WordPress)
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