@Jack ist weg: Wie es mit Twitter weitergeht
Was ist
Twitter-Chef Jack Dorsey ist zum zweiten Mal von seinem Posten zurückgetreten. Nachdem er 2008 hingeworfen und 2015 erneut übernommen hatte, dürfte sein Abgang diesmal endgültig sein. Auf Dorsey folgt Parag Agrawal, der bislang eher unbekannte Technikchef.
Ausgerechnet am Montag, einem Tag, den Twitter seinen Angestellten freigegeben hatte, verkündete Dorsey seinen Abschied – standesgemäß auf Twitter. Seitdem haben wir viel gelesen, telefoniert und uns umgehört. Jetzt versuchen wir, die Fragen zu beantworten, die Dorseys Entscheidung aufwirft.
Warum hat Dorsey Twitter verlassen?
- Die Entscheidung kam selbst für hochrangige Angestellte aus dem Nichts. Offenbar waren nur wenige eingeweiht. Mehrere Twitter-Managerïnnen äußerten sich auf Twitter verwundert und überrascht. Auch Twitters internen Chats zufolge schien niemand darauf vorbereitet zu sein.
- Glaubt man Dorsey, dann gibt es für seinen Abschied vor allem einen Grund: das absolute Vertrauen, das er in seinen Nachfolger als CEO, den neuen Aufsichtsratsvorsitzenden und das Team habe.
- Das jedenfalls schreibt er in seiner Abschiedsmail, die er selbst öffentlich machte.
- Es mag sein, dass er Twitter in guten Händen wähnt. Ausschlaggebend dürften aber zwei andere Dinge gewesen sein.
- Erstens stand Dorsey seit Anfang 2020 unter enormen Druck des Investors Elliott Management. Hinter dem Hedgefonds steckt der Milliardär Paul Singer, einer der gefürchtetsten Investoren der Welt (New Yorker).
- Nach dem Einstieg kündigte Elliott Management an, Dorsey als CEO ersetzen zu wollen. Der Investor installierte drei neue Aufsichtsräte und nahm direkten Einfluss auf Twitters Entscheidungen.
- Zunächst sah es so aus, als habe Dorsey den Machtkampf gewonnen. Doch auf Druck von Elliott Management verordnete sich Twitter ambitionierte Wachstumsziele, die es voraussichtlich nicht erreichen wird. Allein 2022 sollen 100 Millionen Nutzerïnnen hinzukommen. Das ist unrealistisch.
- Es ist möglich, dass Dorsey keine Lust hatte, weiter mit Elliott Management zu streiten. Vielleicht hat ihm der Aufsichtsrat auch den Abgang nahegelegt. Dorsey selbst sagt, es sei seine eigene Entscheidung gewesen.
- Zweitens hatte Dorsey schon immer etliche Interessen, die weit über Twitter hinausgehen. Dazu zählt etwa sein zweites Unternehmen Square und seine Leidenschaft für Bitcoin und die Blockchain (The Information).
- Wir zählen uns zu den Krypto-Skeptikern, weil uns bislang nicht klar ist, welche realen Probleme die Blockchain lösen soll, die es rechtfertigen, massenhaft Ressourcen fürs Mining zu verbrennen. Aber vielleicht kann uns Dorsey ja überzeugen, in Bitcoin zu investieren (eher nicht).
- Klar ist jedenfalls, dass Dorsey nach seinem Rücktritt nicht in ein Loch fallen wird. Er hat genug andere Themen, um die er sich kümmern wird – möglicherweise mit mehr Enthusiasmus als um Twitter.
Wofür stand Dorsey?
- In seinem Newsletter erzählt Casey Newton eine Anekdote (Platformer), die Dorsey gut beschreibt. Vor zehn Jahren rief Dorsey alle Angestellten zu einem Meeting. Das Licht ging aus, Gitarrenakkorde erklangen, und Dorsey forderte alle auf, den Lyrics zu lauschen:
Blackbird singing in the dead of night / Take these broken wings and learn to fly / All your life / You were only waiting for this moment to arise
- Bis heute rätseln Kollegïnnen, warum Dorsey damals in Twitters Konzernzentrale einen Beatles-Song abspielte. Und genau das ist Dorsey für viele: ein Rätsel.
- Optisch unterscheidet er sich von den meisten Silicon-Valley-Chefs: Rauschebart, Nasenring, eigenwilliger Kleidungsstil. Auch seine Ernährungsweise und sein Lebensstil sind mindestens ungewöhnlich: Dorsey isst nur einmal pro Tag, trinkt morgens ein Glas Salzwasser, meditiert mindestens zwei Stunden, schwört auf Kryokammern und macht gern ausgiebig Hot Yoga.
- Genau wie Mark Zuckerberg brach Dorsey sein Studium ab und verstand sich schon immer eher als Künstler und Freigeist denn als Programmierer.
- Als er 2008 geschasst wurde, soll Ev Williams, neben Dorsey einer der vier Gründer von Twitter, gesagt haben: "Man kann entweder Modeschöpfer oder CEO von Twitter sein. Man kann nicht beides sein."
- Dorsey mag es manchmal an Fokus mangeln, an Erfolg mangelt es ihm nicht: Der Zahlungsdienstleister Square, den er in seiner Twitter-Pause gründete, ist mittlerweile mit 100 Milliarden Dollar bewertet – und damit fast dreimal mehr wert als Twitter.
- Wir haben Dorsey nie persönlich erlebt, seine Auftritte vor dem US-Kongress aber immer als unterhaltsam wahrgenommen. Zumindest unterscheidet er sich deutlich von Zuckerberg und wirkt weniger roboterhaft.
- Manchmal kommt er uns aber auch ein wenig pseudointellektuell vor: Dorsey kultiviert seine Andersartigkeit und gefällt sich offenbar in seiner Rolle als skeptischer Denker – obwohl er inhaltlich manchmal Banalitäten von sich gibt.
- Treffend beschrieb das etwa Ashley Feinberg in einem Vorspann zu einem Interview, das sie 2019 mit Dorsey führte (Huffington Post):
A conversation with Twitter CEO Jack Dorsey can be incredibly disorienting. Not because he’s particularly clever or thought-provoking, but because he sounds like he should be. He takes long pauses before he speaks. He furrows his brow, setting you up for a considered response from the man many have called a genius. The words themselves sound like they should probably mean something, too. Dorsey is just hard enough to follow that it’s easy to assume that any confusion is your own fault, and that if you just listen a little more or think a little harder, whatever he’s saying will finally start to make sense. Whether Dorsey does this all deliberately or not, the reason his impassioned defenses of Twitter sound like gibberish is because they are.
Was lief schlecht unter Dorsey?
- Als Dorsey seinen Abschied verkündete, stieg der Aktienkurs zwischenzeitlich um elf Prozent. Das beschreibt die Skepsis, die viele Investoren und Aktionärinnen dem Twitter-Chef entgegenbringen.
- Tatsächlich hat Dorsey es jahrelang nicht geschafft, das Potenzial von Twitter richtig auszuschöpfen. Die Plattform wächst seit Jahren nur langsam, während die Dienste der Konkurrenten wie Meta, Snap oder TikTok neue Nutzerïnnen gewinnen.
- Dabei geht es nicht nur um die Größe, sondern auch um die Monetarisierung der bestehenden Reichweite. Twitter ist zwar nicht besonders groß, aber sehr präsent in Politik und Medien. Doch nach wie vor läuft das Anzeigengeschäft eher schleppend (Stratechery).
- Neben dem mäßigen wirtschaftlichen Erfolg galt Twitter lange Zeit auch als vollkommen überfordert (Mother Jones), was den Umgang mit Hass und Hetze angeht. Die Plattform war ein toxischer Ort für Frauen, queere Menschen oder andere Minderheiten.
- Auch mit seinem teils impulsiven Führungsstil eckte Dorsey immer wieder an. Mal verkündete er überraschend, ab sofort die Hälfte des Jahres in Afrika verbringen zu wollen (dann kam Corona). Mal schrieb er spät in der Nacht eine E-Mail an die ganze Belegschaft, dass künftig alle von zu Hause aus arbeiten könnten – ohne vorher der Personalabteilung Bescheid zu geben.
- Vor anderen Entscheidungen drückte sich Dorsey dagegen, oder er überließ sie anderen. Bei manchen Produkt-Teams war er sehr präsent, bei anderen ließ er sich gar nicht blicken – weil er sich nur selektiv für bestimmte Themen interessierte.
- Es gibt offenbar Menschen, die mehrere Unternehmen gleichzeitig führen können: Steve Jobs (Apple und Pixar) oder Elon Musik (Tesla, SpaceX und The Boring Company). Doch vermutlich weiß nur Dorsey selbst, ob er eher Twitter-Chef oder Square-Chef war (Platformer):
There’s a joke about Dorsey that says everyone at Twitter thought he was working more on Square, and everyone at Square thought he was working more on Twitter. This served to elide the question of how much he was working at all.
Was lief gut unter Dorsey?
- In den vergangenen beiden Jahren sah es so aus, als habe Twitter an den richtigen Stellschrauben gedreht. Im Monatsrhythmus wurden neue Funktionen und Produkte veröffentlicht, darunter auch zahlreiche sinnvolle Sicherheitsmaßnahmen, um Nutzerïnnen zu schützen.
- Die wirtschaftlichen Kennzahlen erholten sich 2021 ebenfalls. Das lag allerdings auch an den geänderten Nutzungsgewohnheiten im Zuge der Pandemie, von denen fast alle großen Plattformen profitierten.
- Im Gegensatz zu anderen Unternehmen war Twitter ungewöhnlich selbstkritisch und transparent. Die Plattform ist relativ offen, unabhängige Forscherïnnen haben Zugriff auf viele Daten und Schnittstellen (hallo, Meta).
- Nachdem die Schotten für Entwickler von Dritt-Apps vor Jahren dicht gemacht wurden, veröffentliche Twitter kürzlich eine neue API, die alternative Clients ermöglichen könnte.
- Der Umgang mit Donald Trump steht sinnbildlich für Twitters Entwicklung: Nach jahrelanger Untätigkeit sperrte Twitter das Konto schließlich doch noch – früher und konsequenter als Facebook und YouTube.
- Die Entscheidung kam zu spät, Anlass und Prozess waren fragwürdig, in der Sache war sie aber richtig. So kann man Twitter generell beschreiben: Oft dauert es zu lang, nicht immer ist der Weg nachvollziehbar, am Ende kommt aber trotzdem ein Ergebnis heraus, das weniger schlecht ist, als man befürchten musste.
Wer ist sein Nachfolger Parag Agrawal?
- Bis gestern wusste fast niemand, wer Parag Agrawal ist. Das verdeutlichen die Überschriften der Artikel, die seitdem erschienen sind.
- "Who Is Parag Agrawal, Twitter’s New C.E.O.?", titeln New York Times, Protocol und Bloomberg fast wortgleich. The Verge gibt "An introduction to Parag Agrawal, Twitter’s new CEO", Fast Company verspricht "5 things to know about Parag Agrawal, Twitter’s new CEO", während Gizmodo noch zwei drauflegt: "7 Things to Know About Twitter's New CEO".
- Wir haben alle Texte gelesen und können sagen: Sie ähneln sich. Das Kurzportrait der New York Times und den Text von Protocol haben wir als am ergiebigsten empfunden, also spar dir ruhig den Rest.
- Nach Sundar Pichai (Google), Satya Nadella (Microsoft) und Arvind Krishna (IBM) übernimmt der nächste CEO mit Wurzeln in Indien einen großen Tech-Konzern.
- Agrawal gilt als begabter Entwickler und Mathematik-Genie, der aber auch langfristige Visionen für Twitter entwickeln könnte. Er arbeitet dort seit zehn Jahren und soll mit seiner ruhigen Art sehr beliebt bei seinen Kollegïnnen sein.
- Die Dezentralisierungs-Initiative Bluesky und Twitters Versuch, Kryptowährungen zu integrieren, gehen maßgeblich auf Agrawal zurück. Insofern könnte er also den Kurs weiterführen, der Dorsey vorschwebte.
- Auf den neuen Twitter-Chef warten große Herausforderungen: Er muss möglichst alle Probleme fixen, die wir unter der Frage "Was lief schlecht unter Dorsey?" skizzierten. Dabei wird er sich mit dem Druck von Investoren wie Elliott Management herumschlagen, Politikerïnnen beschwichtigen und drohende Regulierung im Auge behalten müssen.
- Produkte wie Spaces, der Newsletter-Zukauf Revue und das Twitter-Abonnement Blue haben Potenzial, brauchen aber noch jede Menge Feinschliff. Zumindest kümmert sich mit Agrawal jetzt jemand darum, der nicht noch ein anderes Unternehmen parallel führen muss.
Könnte Dorseys Abgang ein Vorbild für andere Gründerïnnen sein?
- Dorseys Abschiedsmail enthält einen Absatz, den man als Wink mit dem Zaunpfahl lesen könnte:
There’s a lot of talk about the importance of a company being "founder-led." Ultimately I believe that’s severely limiting and a single point of failure. There aren’t many companies that get to this level. And there aren’t many founders that choose their company over their own ego.
- Larry Page, Sergey Brin, Steve Wozniak und Bill Gates haben kaum noch etwas mit Google, Apple und Microsoft zu tun, jenen Unternehmen, die sie einst (mit)gründeten.
- Bleibt Mark Zuckerberg, der seinen Einfluss auf Meta in den vergangenen Jahren eher noch erhöht hat und auch das Tagesgeschäft mit beeinflusst.
- Zwischenzeitlich dachten wir, Zuckerberg könnte sich womöglich ähnlich wie Page und Brin zurückziehen, um langfristige Projekte voranzutreiben und seine Vision fürs Metaverse zu verwirklichen. Offensichtlich will Zuckerberg das aber nicht im Hintergrund tun, sondern an vorderster Front.
- Deshalb glauben wir, dass Meta vorerst der Zuckerberg-Konzern bleiben wird. Trotzdem schließen wir uns der Bitte des früheren PR-Chefs von Twitter an, der seinen Ex-Chef aufforderte (Twitter / Brandon Borrman):
What an unbelievable run for @jack. From a company near death to one more relevant than ever. Just hope your trolling of Zuck never stops!
Lectures 2022
Werte Abonnentïnnen, wir haben Neuigkeiten! Im Januar starten endlich wieder unsere Lectures! Wir freuen uns riesig, dass schon jetzt so viele spannende Kollegïnnen ihre Bereitschaft erklärt haben, einen Impulsvortrag bei uns zu halten. Die Reihenfolge steht zwar noch nicht ganz fest, aber folgende Watchblog-Leserïnnen sind dabei:
- Ann-Katrin Schmitz zu Instagram
- Dirk von Gehlen zu Memes
- Lisa Zauner und Vanessa Beule zur Generation Alpha
- Daniel Fiene zum Launch einer eigenen journalistischen Unternehmung
- Marcus Bösch zu TikTok
Auch werden Simon und ich zu aktuellen Entwicklungen und Trends an der Schnittstelle von Social Media, Politik und Gesellschaft sprechen. Weitere Speakerïnnen geben wir jeweils mit Vorlauf im Briefing bekannt.
Los geht es am 13.1.2022, 17:00 – 18:00 Uhr, mit Dirk von Gehlen. Wer an diesem Termin dabei sein möchte, trägt sich bitte hier in diese Liste mit genau jener E-Mail-Adresse ein, mit der auch das Briefing empfangen wird. Andere Adressen können leider nicht berücksichtigt werden. Anmeldeschluss ist der 13.1. um 12:00 Uhr.
Die Lectures finden (mit der Ausnahme im Januar – Ferien lassen grüßen) immer am ersten Donnerstag des Monats statt – und zwar stets via Zoom von 17:00 – 18:00 Uhr. Der Link zum Call wird euch am Tag der Veranstaltung nach Anmeldeschluss per E-Mail geschickt. Bitte habt Verständnis dafür, dass die einzelnen Lectures danach nicht grundsätzlich als Videos zur Verfügung stehen werden. Bei einigen Vorträgen mag das der Fall sein. Garantieren können wir das aber nicht.
Wenn du auch gern eine Lecture bei uns halten möchtest, freuen wir uns über einen Hinweis per E-Mail! Ansonsten bist du herzlich eingeladen, als Gast bei jeder Lecture dabei zu sein – dank deines Abos (egal ob über Steady oder deinen Arbeitgeber) natürlich kostenfrei.
Wir freuen uns schon sehr auf die Veranstaltungen!
Cheers ✌🏻
Header-Foto von Filip Mroz