Discovery Engine: Warum sich Facebook fundamental verändern könnte

Was ist

Mark Zuckerberg hat Angst vor TikTok, schrieben wir in Ausgabe #794. Facebook und der Mutterkonzern Meta hätten sich allerdings niemals in Gelddruckmaschinen verwandelt, wenn Zuckerberg aus Furcht vor Konkurrenz in Schockstarre verfallen wäre. Man kann ihm ja vieles vorwerfen – Untätigkeit in Krisenzeiten gehört nun wirklich nicht dazu:

  • Facebook hat kein Geschäftsmodell? Sheryl, bitte übernehmen Sie.
  • Mobile Revolution verpennt? Jetzt kaufen wir die besten iOS- und Android-Entwicklerïnnen im Valley.
  • Alle nutzen jetzt diese Foto-App? Eine Milliarde Dollar sind auf dem Weg.
  • Alle lieben WhatsApp? Dann kaufen wir das Ding halt auch noch!
  • Snapchat gräbt Facebook das Wasser ab? Stories können wir schon lange!
  • TikTok ist die neue Boom-App? Was ByteDance kann, können wir schon lange.

Wie der Plan aussieht, mit dem TikToks rasanter Aufstieg zumindest ausgebremst werden soll, zeigt jetzt ein geleaktes Memo (The Verge). Darin erklärt Facebook-Chef Tom Alison seinen Mitarbeiterïnnen, wie die Plattform umgebaut werden soll.

Wie Facebook umgebaut werden soll

Metas Strategie basiert dem Konzeptpapier zufolge auf vier Säulen:

  • Find, enjoy and create interesting content.
  • Strengthen their relationships.
  • Create communities – both big and small.
  • Realize economic opportunities.

Um diese strategischen Ziele umzusetzen, setzt Meta drei Prioritäten:

  • Make Reels successful.
  • Build world class recommendations technology.
  • Unlock messaging-based sharing.

Was nach Buzzword-Bingo klingt, dürfte große Konsequenzen für Facebook haben. Nach der Neuausrichtung des Newsfeeds im Jahre 2018 (Priorität damals: mehr Inhalte von Freunden, Bekannten und Verwandten – weniger Clickbait und virale Polit-Postings), steht bei Facebook 2022 der nächste große Umbau an.

In der heutigen Ausgabe setzen wir uns mit Facebooks neuen Inhaltsempfehlungen auseinandersetzen. Zur Bedeutung von Reels und Messaging folgt nächste Woche mehr.

Neuer Empfehlungsmechanismus: Die Discovery Engine

Facebooks Erfolg beruht(e) darauf, den Menschen mehr von dem zu zeigen, was sie interessiert. Dafür sammelt Facebook diverse Signale auf der Plattform (Likes, Klicks, Freundschaften, Kommentare, Zeit, die mit Videos verbracht wird, Seiten und Hunderte weitere Datensätze) und überall dort, wo das Surf-Verhalten der Nutzerïnnen verfolgt werden kann (also auf allen Webseiten, die irgendeine Form von Facebook-Tracker verbaut haben – und das sind verdammt viele.

Im Zentrum der Empfehlungslogik steht bei Facebook der Social Graph: das Beziehungsnetzwerk zwischen den einzelnen Nutzerïnnen. Facebook-User sehen im Feed in erster Linie, was ihre Facebook-Freundïnnen teilen.

TikTok setzten Menschen zwar ebenfalls Dinge vor, die sie interessieren könnten. Der entscheidende Unterschied zu Facebook: Der Social Graph ist dabei nahezu irrelevant. Das Beziehungsnetzwerk der einzelnen Nutzerïnnen hat wenig Auswirkungen auf die Inhalte, die bei den Usern im Feed landen. TikTok zeigt den Nutzerïnnen personalisiert die viralsten Inhalte aus dem gesamten TikTok-Kosmos.

Künftig möchte Facebook seine eigenen Systeme nach dem Vorbild von TikTok gestaltet. Im Feed sollen mehr „unconnected recommendations“ landen, also (virale) Inhalte von Usern, zu denen man vorher keinerlei Kontakt hatte. Im Memo heißt es dazu:

Historically, Facebook has taken an entity-centric approach to discovery. We help you connect with the friends, groups, and pages you care about most. Then updates from those connections are ranked in Feed. Unconnected content in Feed was surfaced via reshares from the friends, groups, and pages you follow, but unconnected recommendations weren’t historically a core part of the Feed experience.

Today this is changing. Social media products – including our own – are delivering value by investing more in discovery engines that help people find and enjoy interesting content regardless of whether it was produced by someone you’re connected to or not.

Wie sich Facebooks Feed (das „News“ haben sie ja bereits vor geraumer Zeit gestrichen) künftig anfühlen wird, beschreibt Alex Heath (The Verge):

The main tab will become a mix of Stories and Reels at the top, followed by posts its discovery engine recommends from across both Facebook and Instagram. It’ll be a more visual, video-heavy experience with clearer prompts to direct message friends a post.

Offene Fragen

Was sich nach einem relativ einfach umzusetzenden Strategiewechsel anhört, stellt Facebook vor große Herausforderungen.

  • Wie gut wird Facebook TikToks Empfehlungsalgorithmus klonen können? Nur weil Facebook enorme Expertise darin besitzt, „connected content“ herauszufiltern, heißt das noch lange nicht, dass das Unternehmen auch in der Lage ist, treffsicher passende Inhalte aus dem gesamten Facebook-Instagram-Universum personalisiert zu präsentieren.
  • Wie schafft es Facebook, Nutzerïnnen zu überzeugen, Reels zu produzieren? Schließlich gibt es dafür bereits TikTok. Niemand hat sich bei Facebook angemeldet, um kurze Videos hochzuladen. Genau die braucht es aber massenweise, um mit der Content-Dichte von TikTok mithalten zu können. Vor allem junge Content Creator haben nicht mal mehr einen Facebook-Account, sie nutzen ausschließlich TikTok.
  • Wie kann Facebook die Balance halten, wenn es auf der einen Seite antritt, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, und andererseits eine Art modernes Fernsehen darstellen möchte? Niemand fühlt sich mit anderen Nutzerïnnen auf TikTok verbunden, nur weil mensch dieselben viralen Videos schaut. Facebook muss sich entscheiden, was es sein möchte. Ein komisches Mittelding braucht kein Mensch.

Be smart

Für Publisher sind die Konsequenzen noch überhaupt nicht abzusehen. Bei TikTok jedenfalls scheint es äußerst schwierig, nachhaltig und beständig Menschen mit Inhalten zu erreichen. Der „magische“ TT-Algorithmus erinnert aus Sicht vieler Anbieter an eine Lotterie: Manchmal verlierst du und manchmal gewinnen die anderen. Und ganz machmal bekommst du aber auch 100.000 Views. Wie lässt sich dafür eine sinnvolle Strategie ableiten?


Social Media & Politik


Kampf gegen Hass und Desinformation

  • Warnhinweise zeigen Wirkung: Twitter zeigt englischsprachigen Accounts seit Mai 2021 standardmäßig einen Warnhinweis, wenn eine Antwort auf einen Tweet verletzend oder beleidigend sein könnte. Eine Studie (Blog / Twitter) mit 200.000 Tweets zeigt nun, dass diese Hinweise durchaus etwas bewirken. Von 100 Tweets werden zwar 69 ohne Änderung verschickt, neun aber immerhin gar nicht und 22 noch einmal überarbeitet. Von den 22 überarbeiteten Tweets waren acht dann weniger verletzend, 13 genau so verletzend und einer sogar noch verletzender (Leute, ey). 17 Prozent der Tweets waren aber immerhin entweder weniger verletzend oder wurden gar nicht erst gesendet. Prompts wirken – das hätten wir nicht unbedingt erwartet.
  • YouTube bekommt Edit-Button: Ok, diesen Witz verstehen nur Twitter-Nutzerïnnen. Aber wer hätte gedacht, dass YouTube schneller eine Korrekturfunktion bekommt als Twitter eine Option, abgeschickte Tweets noch einmal zu ändern. Zwar lässt sich bei YouTube nicht das Video an der entsprechenden Stelle editieren. Immerhin kann man aber Hinweise an der gewünschten Stelle einblenden, um Dinge richtigzustellen. Gut!

Social Media & Journalismus

Nur aufgeschnappt und kurz verlinkt:


Video Boom

  • YouTube meldet 1,5 Milliarden monatliche Shorts-Nutzerïnnen: Gemeint ist hier natürlich das Kurzvideo-Format und nicht das Kleidungsstück. (Sorry für den Kalauer, es ist sehr heiß draußen.) Um als monatlicher YouTube-Shorts-User gezählt zu werden, reicht es allerdings, eingeloggt ein Kurzvideo anzuklicken (Techcrunch). Also einfach nur eins. Egal, wie lange. Auch wenn es nur zufällig war, es zählt. Nun ja. Mehr dazu in einer Sekunde …

Creator Economy

  • Multiformat-Creator: Wo wir gerade bei YouTube sind: Um mehr Erfolg auf YouTube zu haben, sollten User nach Möglichkeit sowohl Kurzvideos als auch längere Videos sowie Live-Videos posten. Laut YouTube Vice President Tara Walpert Levy könnten User, die alle Formate bedienen, mit deutlich besseren Wachstumsraten rechnen (Billboard). Ja, aus Sicht von YouTube ist das logisch: Macht bitte einfach alles, je mehr Inhalte, desto besser.
  • Twitch teilt Einnahmen mit Kreativen: Analog zu YouTube teilt Twitch nun auch die Einnahmen, die das Unternehmen mit Anzeigen verdient, mit den Creatorn, die Videos produziert haben. Künftig gehen 55 Prozent an die Urheber (The Verge). Auch gut.

Zitat der Woche

Obviously, expensive digital images of monkeys are going to improve the world immensely

NFTs “100 percent based on greater fool theory“


Lesetipps fürs Wochenende


Neue Features bei den Plattformen

Facebook Creator Studio

  • Reels und Stories lassen sich jetzt am Desktop mittels Creator Studio erstellen und planen.

Instagram

  • Digitales Wohlergehen à la Instagram: Nachdem TikTok neue Tools vorgestellt hat, um das digitale Wohlergehen der User zu befördern, kommt Instagram mit fast identischen Features um die Ecke (Facebook Newsroom). Einer Studie zufolge geht es Kids einfach besser, wenn sie das Gefühl haben, sie kontrollieren die App, und nicht das doofe Gefühl vorherrscht, dass die App sie kontrolliert. Well. Das sollte wohl jedem Being so gehen.
  • Remix for Photos: Bald lassen sich auch Fotos bei Instagram remixen (@LindseyGamble).

WhatsApp

Snapchat

  • Remix-Snaps: Bei TikTok ist es schon lange sehr beliebt, Videos von Dritten aufzugreifen und etwas Eigenes daraus zu basteln. Snapchat wartet nun mit ähnlichen Funktionen auf: Userïnnen können mittels Remix (analog zur Stitch-Funktion bei TikTok) Snaps um eigene Ideen erweitern. Bei „React to Stories“ bleibt das Original im Hintergrund, das eigene Reaction-Video ist im Vordergrund zu sehen. Mittels „Record a response“ lässt sich das Original-Video im Reaction-Video einbetten.

Oculus Quest

  • Mehr Einblick: Eltern von Kids mit Oculus-Quest-VR-Brille können nun prüfen, welche Apps die Kleinen so nutzen, wie viel Zeit sie mit der Brille verbringen und welche Freunde sie (virtuell) haben (Facebook / Newsroom).

Header-Foto von Keagan Henman