Salut zu einer weiteren Ausgabe des Social Media Watchblogs. Der heutige Newsletter ist für alle frei und darf gern geteilt, bzw. weitergeleitet werden. Danke für das Interesse an unserer Arbeit, Martin und Simon
Bundestagswahl auf TikTok: Die AfD-Dominanz bröckelt
Was ist
Die Bundestagswahl liegt genau einen Monat zurück, das ist ein guter Zeitpunkt für eine Bilanz: Wie haben deutsche Parteien TikTok im Wahlkampf genutzt? Dazu haben Forscher des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena jede Menge Daten gesammelt und uns die Auswertung zur Verfügung gestellt. Wir haben mit den Autoren gesprochen und fassen ihre Ergebnisse zusammen.
Warum das wichtig ist
Auf Bundesebene laufen die Koalitionsverhandlungen, die nächsten Landtagswahlen stehen erst 2026 an. Doch unabhängig von Wahlkämpfen ist TikTok eine wichtige Plattform für die politische Kommunikation. Wer junge Menschen erreichen will, sollte sich um eine sinnvolle TikTok-Strategie bemühen.
Trotzdem wäre es zu einfach, die Erfolge der AfD und der Linken bei Erstwählerïnnen auf TikTok zurückzuführen. Die Plattform mag ein Faktor für die Mobilisierung gewesen sein, entscheidender sind aber die richtigen Botschaften und Inhalte. TikTok ist nicht ursächlich für Wahlergebnisse, sondern eher ein Katalysator, der politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen verstärkt.
Methodik und Autoren
- Die Analyse umfasst die TikTok-Accounts aller Direktkandidaten und Abgeordneten auf Europa-, Bundes- und Landesebene der sieben relevanten Parteien: AfD, BSW, CDU/CSU, Grüne, FDP, Linke und SPD. Zudem wurden Landeslisten, Kreisverbände und Jugendorganisationen überprüft und alle Personen mit TikTok-Konten zum Datensatz hinzugefügt. Insgesamt wurden rund 2200 Accounts untersucht.
- Im Erhebungszeitraum zwischen Mitte Dezember und Mitte Februar haben diese Accounts mehr als 26.000 Videos gepostet. Die drei IDZ-Forscher Michael Schmidt, Christian Donner und Harald Sick haben Shares, Likes, Views und Kommentare dieser Postings ausgewertet und miteinander verglichen.
- Die Autoren sind Mit-Herausgeber von Machine Against the Rage, einem Magazin für digitale Konfliktforschung. Das IDZ ist Teil eines Netzwerks gegen Desinformation und Hass im Netz. Das Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie Leben vom Bundesfamilienministerium gefördert.
Die zentralen Erkenntnisse
1. Die AfD büßt ihren Vorsprung ein
- Vor gut einem Jahr beschäftigten wir uns zum ersten Mal ausführlich mit dem Thema. "Warum die AfD auf TikTok dominiert – und was dagegen helfen könnte", überschrieben wir unser Briefing. Damals traf diese Aussage zu: 2023 und Anfang 2024 war die AfD die einzige deutsche Partei, die das Potenzial von TikTok erkannt hatte und systematisch nutzte.
- Das änderte sich im Laufe des vergangenen Jahres. "AfD auf TikTok: Bitte nicht in den Himmel hypen" hieß ein Newsletter aus dem November. Der Anlass war ein Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung, geschrieben von den gleichen Autoren wie die aktuelle IDZ-Studie.
- Ihre zentrale Botschaft: Hinter der vergleichsweise großen Reichweite der AfD steckt keine geniale Strategie, sondern eher die Untätigkeit der anderen Parteien. Die haben das Problem aber erkannt und holen auf.
- Diese Entwicklung hat sich bei der Bundestagswahl bestätigt. In Teilen haben SPD und Linke die AfD nicht nur eingeholt, sondern überholt. Die drei erfolgreichsten Accounts, darunter Olaf Scholz und Heidi Reichinnek (Zeit), haben jeweils mehr Engagement verbucht als die Top-Konten der AfD, zu denen etwa Alice Weidel und die Bundestagsfraktion zählen.
- "Mich hat überrascht, wie nah andere Parteien der AfD in so kurzer Zeit gekommen sind", sagt IDZ-Forscher Christian Donner. "Die AfD-Dominanz ist zumindest in der Spitze gebrochen."
2. In der Breite bleibt die AfD dominant
- Auf die gute Nachricht folgt der Dämpfer: Sobald man mehr als eine Handvoll Konten mit besonders großer Reichweite analysiert, liegt die AfD weiter deutlich vorn. Bei der AfD besitzen viel mehr Kandidierende auf Landeslisten oder Abgeordnete in Kommunalparlamenten einen TikTok-Account.
- Zudem posten sie häufiger als die Politikerïnnen anderer Parteien. Mehr als die Hälfte der Accounts, die mindestens 50 Videos geteilt haben, gehört zur AfD.
- Insgesamt haben AfD-Mitglieder im Erhebungszeitraum gut doppelt so viele Videos gepostet wie Grüne und SPD und rund dreimal so viele wie Union und Linke. Jenseits der Spitzen-Accounts übertrifft bei der AfD auch das Engagement pro Post die Interaktionen der anderen Parteien. Wenn man Follower und Likes aller Konten addiert, bleibt die AfD also die mit Abstand stärkste Kraft auf TikTok.
- Neben Parteimitgliedern verlässt sich die AfD auf ein breites Unterstützernetzwerk aus parteinahen Organisationen und Personen wie Jugendverbänden oder Stadträten. Auch in diesem Vorfeld ist TikTok viel weiter verbreitet als bei anderen Parteien. Die AfD interagiert regelmäßig mit den Inhalten, die ihre Unterstützerïnnen posten.
- Frühere Recherchen und Untersuchungen deuten darauf hin, dass Teile dieses Vorfelds mit Methoden operieren, die gegen TikToks Nutzungsbedingungen verstoßen, sich auf Telegram koordinieren und unauthentische Fan-Konten anlegen (Correctiv, SZ). Das war aber kein Bestandteil der Analyse des IDZ.
3. Es gibt keine Indizien für algorithmische Bevorzugung
- Vor der Wahl legten manche Untersuchungen nahe, dass Plattformen wie X und TikTok rechtslastige Inhalte bevorzugten (Global Witness). Wir hatten damals schon Zweifel an der Aussagekraft einer "Studie", die sich auf gerade einmal neun Testkonten stützt (SMWB). Auch andere Recherchen mit ähnlichen Ergebnissen beruhten eher auf anekdotischer Evidenz als auf systematischer Datenauswertung.
- Da TikTok keine Einblicke in seine Algorithmen zulässt, können Forschende nur den Output bewerten. Der Datensatz des IDZ liefert jedenfalls keine Belege, dass TikTok die AfD systematisch bevorzugt.
- Für Christian Donner gibt es eine andere Erklärung für den Erfolg: "Die AfD nutzt TikTok seit Jahren und hat sich die Reichweite über einen langen Zeitraum aufgebaut. Dass andere Parteien binnen weniger Monate in der Spitze aufholen konnten, zeigt eher, dass der First-Mover-Vorteil vergleichsweise klein ist und alle eine Chance haben."
- Sein Kollege Harald Sick sieht ein wiederkehrendes Muster: "Die AfD hat schon immer frühzeitig mit neuen Plattformen und alternativen Medien experimentiert. Facebook, YouTube und Telegram ermöglichen es der Partei, die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien zu umgehen." Das sei bei TikTok ähnlich, deshalb habe die AfD frühzeitig darauf gesetzt und sich einen Vorteil verschafft.

4. Linke, Grüne und SPD reposten sich oft gegenseitig
- Die Forschenden haben ausgewertet, welche Parteien einander teilen. Eine Cluster-Analyse zeigt: Die AfD und ihr Unterstützernetzwerk haben kleinere Schnittmengen zum BSW und zur FDP, ansonsten ist die Partei recht isoliert.
- Dafür hängen Linke, Grüne und SPD eng zusammen, deren Politikerïnnen häufig Posts der anderen Parteien weiterverbreiten. FDP und Union stehen wiederum relativ allein da.
- Manche Konservative und Rechte werden sagen: Aha, es gibt also doch ein linksgrünes Klüngel-Milieu.
- Doch für die Cluster-Bildung gibt es eine nachvollziehbare, politische Erklärung: Der Tabubruch von Friedrich Merz und die darauffolgende Diskussion über die Brandmauer haben nachvollziehbare Empörung und viele inhaltliche Schnittmengen bei Menschen ausgelöst, die eine Zusammenarbeit mit Faschisten ablehnen. Das zeigt sich auch auf TikTok.
5. Die Strategien der Parteien unterscheiden sich teils stark
"Ich hätte nicht gedacht, wie unterschiedlich die Parteien TikTok nutzen", sagt IDZ-Forscher Donner. Die Strategien wichen teils deutlich voneinander ab, das spiegle sich auch in der Resonanz und Reichweite wider. Einige Beobachtungen im Überblick:
AfD
- jahrelang gewachsene Präsenz, dadurch erfahrener und früher bereit für den Wahlkampf
- im Dezember und Anfang Januar große Vorteile durch höheres Engagement in der Breite
- aktive Interaktion mit Umfeld, viele Reposts von parteifremden Inhalten
CDU/CDU
- strategischer Fokus auf Direktkandidaten, ein Drittel mit Account auf TikTok vertreten
- kaum Präsenz in der Breite, gerade mal zwei Prozent der Kandidierenden auf Landeslisten nutzen TikTok
- wenig plattformgerechtes Verhalten, kaum Interaktion mit anderen Accounts oder Anknüpfung an aktuelle Trends
- viel Volumen, wenig Ertrag: ähnliche viele Videos wie die SPD, weniger als die Hälfte der Views, insgesamt nur zweimal in den Top 100 der erfolgreichsten Videos vertreten (jeweils mit #Söderisst)
SPD
- stark in der Spitze, Top-3-Accounts mit dem größten Engagement
- fünf der zehn meistgesehenen Videos stammen von der SPD
- dafür kaum Resonanz in der Breite: trotz vergleichsweise starker Präsenz wenig Engagement, TikTok offenbar eher pflichtbewusst genutzt
Linke
- ähnlich wie bei der SPD großer Erfolg der Top-Accounts, angeführt von Reichinnek und dem offiziellen Partei-Account
- beste Performance im zweiten Monat des Erhebungszeitraums, profitierte offenbar von der Brandmauer-Debatte
- eher wenig Posts, trotzdem viele Likes und Views
- stark ausgeprägte Kooperation, viele parteiinterne Reposts, offenbar strategische Absprache oder Vorgabe
Grüne
- ähnlich großes Posting-Volumen wie die SPD, aber nur ein Drittel der Views
- viel parteiinterne Interaktion
- auffällig viele Kommentare unter den Videos, insbesondere bei Direktkandidatïnnen
- überwiegend negative Tonalität deutet auf Kampagne gegen die Grünen hin (Belltower), könnte aber auch am Feindbild liegen, das Rechte seit Jahren erfolgreich etablieren
BSW/FDP
- jeweils starker Fokus auf Christian Lindner und Sahra Wagenknecht, beide erzielen mehr als drei Viertel des Engagements
- jenseits der Spitzenkandidatïnnen kaum Reichweite und Interaktion
- wenige Accounts, wenige Posts, wenige Views, TikTok offenbar von geringer strategischer Bedeutung
Be smart
Die IDZ-Analyse passt zu einer Auswertung der CeMAS-Forscher Miro Dittrich und Joe Düker, die kurz vor der Bundestagswahl bilanzierten:
Die AfD scheint über keine kohärente TikTok-Strategie verfügen, sondern von einer dezentralen, schwer zuordenbaren Content-Produktion durch ihr Vorfeld zu profitieren. Die vermeintliche Stärke der AfD auf TikTok basiert damit weniger auf einer gezielten Partei-Strategie als vielmehr auf den Aktivitäten eines engagierten Unterstützer-Netzwerks.
Trotzdem können sich andere Parteien etwas von der AfD abschauen. "Wenn man auf TikTok Erfolg haben will, muss man auf TikTok präsent sein", sagt Christian Donner vom IDZ. "Man findet nur heraus, was funktioniert, wenn man Dinge ausprobiert. Das muss nicht perfekt sein, im Gegenteil: Mit großem Aufwand produzierte Videos laufen auf TikTok oft gar nicht so gut."
Das gilt insbesondere für die Basis der Parteien. Direktkandidatinnen und Spitzenpolitiker sind meist auf TikTok vertreten, in der Breite gibt es aber Nachholbedarf. Trotzdem sind wir insgesamt optimistisch: Vor einem Jahr schien TikTok noch fest in AfD-Hand zu sein, jetzt zeigt der Trend in die richtige Richtung. Bei der Bundestagswahl 2029 dominieren dann hoffentlich die demokratischen Parteien – wenn es TikTok dann überhaupt noch gibt.
Go deeper
Politics
- Du hast Jeffrey Goldberg der Gruppe hinzugefügt: Die Trump-Administration hat versehentlich den Chefredakteur von The Atlantic in ihren Signal-Chat aufgenommen. Als wäre das nicht bizarr genug: In dem Chat wurden Kriegspläne im Jemen diskutiert. Auch wenn wir Signal immer wieder als Messenger unserer Wahl preisen: Demokraten zeigen sich zurecht fassungslos über dieses Sicherheitsdesaster. (The Atlantic, Tagesschau)
- Meta: Streit um personalisierte Werbung: Instagrams Mutterkonzern hat einem Vergleich zugestimmt, nachdem eine britische Staatsbürgerin dagegen geklagt hatte, dass Meta ihre Daten für personalisierte Werbung nutzt. Ein Präzedenzfall für Millionen weiterer Social-Media-Nutzerïnnen? (The Guardian)
Money
- Apple TV verbrennt jährlich eine Milliarde Dollar: Das. Ist. Sehr. Viel. Geld. Was könnte die Welt damit nicht alles anstellen. (The Information)
- Bluesky hat mit den Anti-Zuckerberg-Shirts mehr Geld verdient als mit dem Verkauf von Domains. So viel zur Frage, wie sich das Unternehmen künftig finanzieren kann. Lol. Aber dazu gleich mehr… (TechCrunch)
Next
- Gerichtsdokumente zeigen, wie schamlos Meta Millionen Bücher raubkopiert hat, um das eigene KI-Modell Llama 3 zu trainieren. Das, was dort an Copyright-Verletzung passiert, dürfte mit der größte Raub der Geschichte sein: Raub an geistigem Eigentum. (The Atlantic)
- Googles Gemini Live kann jetzt erkennen, was Nutzerïnnen filmen, und dazu Fragen beantworten (The Verge). Aber Obacht, denn…
- ... wie kann es eigentlich sein, dass Milliarden Dollar in KI-Plattformen gesteckt werden, bei denen nicht sichergestellt ist, dass das, was sie liefern, auch korrekt ist? Diese Frage stellt Jürgen Geuter, aka tante, auf seinem (immer lesenswerten) Blog Smashing Frames. Und er hat ja recht: Wir gehen ja auch nicht in den Supermarkt und kaufen dort Lebensmittel, die mit einem Warnhinweis versehen sind, dass sie eventuell nicht korrekt hergestellt wurden, giftig sind oder sonstige Probleme verursachen könnten.
Gemini can make mistakes […] so double-check it.
ChatGPT kann Fehler machen. Überprüfe wichtige Informationen.
Sie chatten mit Llama 3.3. KI-Chats zeigen möglicherweise falsche oder anstößige Informationen an.
Journalismus
- Für Google hat Journalismus in Europa keinen Wert - so lautet die zentrale Erkenntnis einer Google-Untersuchung, bei der in acht europäischen Ländern gut einem Prozent der Userïnnen vorübergehend keine News in der Suche mehr angezeigt wurden (Google). Was Google damit im übertragenden Sinne zum Ausdruck bringen will: >> Liebes Brüssel, liebe Publisher, seid froh und dankbar, dass wir überhaupt News in der Suche anzeigen. Publisher sollen bitte damit aufhören, uns für ihr maues Geschäft verantwortlich zu machen. Wir könnten genauso gut News einfach abstellen. Unserem Geschäft würde das nicht weiter schaden. Liebe Grüße, Google <<
- Bluesky schickt im Gegensatz zu Threads und X Menschen tatsächlich noch zu journalistischen Angeboten. Das sind doch eigentlich ganz wunderbare Nachrichten! Wie wäre es, wenn News-Orgs in einen Fund einzahlen, der es ermöglicht, Bluesky am Leben zu halten, ohne dass sie Venture-Kapital aufnehmen, sich von der Werbeindustrie abhängig machen, Paid-Modelle einführen müssen und all den anderen Grind, der dazu geführt hat, dass die anderen Social-Media-Angebote so kaputt sind, wie sie sind. Es muss doch einen Preis geben, mit dem die Plattform läuft, das Führungsteam sehr ordentlich verdient und trotz allem journalistische Angebote etwas davon haben. Weil mehr Leute zu ihnen finden, Journalismus konsumieren, ja, sogar dafür am Ende bezahlen. Weil Menschen sehen, welchen Mehrwert Journalismus liefert... Bluesky 🤝 Journalism ?! (TechCrunch)
Features
YouTube
- YouTube testet die Option, den letzten Screen abzuschalten, auf dem YouTuber weitere Videos anteasern können. (Tubefilter)
Threads
- Threads gibt Nutzerïnnen nun doch die Möglichkeit, den Following Feed als default einzustellen. Tja, hat ja ziemlich lange gedauert, bis sich Meta da mal bewegt. Womöglich zu spät. Aber dazu die Tage mehr. (The Verge)
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