Ausgabe #867 | 14.3.2023
Was ist
Vergangene Woche haben sich rund 50 Content-Moderatorïnnen (CM) in Berlin getroffen, um sich über ihre Arbeitsbedingungen auszutauschen und gemeinsame Forderungen zu erarbeiten. Auf der zweitägigen Veranstaltung vernetzten die Organisatoren ver.di, Foxglove, Aspiration und Superrr Lab erstmals Beschäftige über Konzerngrenzen hinweg. Das könnte ihnen eine gemeinsame Stimme geben, die bislang fehlt.
Die meisten Teilnehmenden arbeiten in Deutschland für TikTok oder Meta. Ein Teil ist direkt bei den beiden Konzernen angestellt, der Rest wird von Subunternehmen wie Majorel beschäftigt. Wir waren bei der abschließenden Pressekonferenz und haben mit rund einem halben Dutzend CM gesprochen.
Warum das wichtig ist
Keine größere Online-Plattform kann auf CM verzichten. Allein Meta und Google beschäftigen jeweils Zehntausende Menschen, die illegale Inhalte aus dem Netz fischen sollen. Insgesamt sichten und prüfen Hunderttausende Menschen einen Teil der vielen Milliarden Beiträge, Fotos und Video, die täglich hochgeladen werden.
Der Job ist brutal und belastend. Das hat mehrere Gründe:
- Die Inhalte: Kindesmissbrauch, Folter, Tierquälerei oder Suizide im Livestream – all das müssen CM ertragen, ohne die bestialischen Videos abzubrechen oder vor dem Grauen die Augen zu verschließen. Schließlich müssen sie am Ende entscheiden, ob der Inhalt gegen die Richtlinien der Plattform verstößt.
- Der Druck: CM bleiben nur wenige Sekunden für jede Entscheidung, das nächste Foto oder Video wartet schon. Täglich prüfen sie Hunderte, teils gar Tausende Inhalte. Die Konzentration darf niemals nachlassen, Fehler können eine Kündigung zur Folge haben.
- Die Unterstützung: Wer mit dem übelsten Schund konfrontiert wird, benötigt psychologische Betreuung – regelmäßig, professionell und unabhängig vom Arbeitgeber. Bislang sind solche Strukturen die Ausnahme, nicht die Regel. Auch deshalb leiden viele CM an Depressionen oder erkranken an posttraumatischen Belastungsstörungen.
- Die Bezahlung: Trotz der anspruchsvollen Aufgaben zahlen Subunternehmen nur wenig mehr als den Mindestlohn. Auch wer direkt bei den Tech-Konzernen beschäftigt ist, gehört zu den Geringverdienern.
- Der Respekt: Als "Müllabfuhr des Internets" werden CM manchmal bezeichnet, und genau wie ihre analogen Kollegïnnen erfahren sie nur wenig Wertschätzung. Die Arbeit geschieht im Verborgenen, nur wenige Menschen wissen davon.
Was die Teilnehmenden fordern
Das Wichtigste an der Veranstaltung war der Austausch. Menschen treffen, die ähnliche Erfahrungen machen, unter ähnlichen Probleme leiden, sich unternehmensübergreifend organisieren. Am Ende des Content-Moderator-Summits standen auch drei konkrete Forderungen:
- Gerechte Bezahlung: Alle Teilnehmenden wünschen sich mehr Geld – aber nicht nur das: Vor allem drängen sie darauf, die teils krassen Unterschiede zwischen Subunternehmen und Tech-Konzernen zu verringern. Dienstleister wie Majorel zahlen signifikant weniger, auch die Arbeitsbedingungen sind schlechter, zudem gibt es kaum Aufstiegsmöglichkeiten.
- Besserer Gesundheitsschutz: Auf der Pressekonferenz und in den persönlichen Gesprächen tauchte dieses Thema immer wieder auf. Die CM fordern angemessene psychologische Betreuung durch professionelle Therapeutïnnen.
- Recht auf Organisation: Nach jahrelangem Ringen bildeten Berliner TikTok Angestellte vergangenes Jahr einen Betriebsrat. Obwohl das deutsche Arbeitsrecht gewerkschaftliche Organisation und Strukturen wie Betriebsräte vorsieht, sind solche Gremien in der Tech-Branche selten – erst recht unter CM, die bislang keine Stimme und kaum Mitspracherecht haben.
Was die Teilnehmenden erzählen
- Respekt und Wertschätzung, diese Wörter fallen in den Gesprächen Dutzende Male. Freundïnnen und Bekannte hielten den Job für anspruchslos, berichten manche CM. "Du musst TikTok-Videos anschauen und bekommst Geld dafür? Oh, das würde ich auch gern machen."
- Als einzige Teilnehmerin spricht Franziska Kuhles mit Namen. Sie ist Vorsitzende des TikTok-Betriebsrates und sagt: "Wir wollen, dass Content-Moderation als schwierige, qualifizierte Tätigkeit anerkannt wird, die kulturelle und sprachliche Kenntnisse erfordert."
- Von Berlin aus werden nicht nur deutschsprachige Inhalte moderiert. Es gibt größere Teams für osteuropäische und nordafrikanische Sprachen sowie Inhalte aus dem Nahen Osten.
- Das bedeutet: Unter den CM sind viele Geflüchtete und Migrantïnnen, die Inhalte in der Sprache ihres Heimatlandes moderieren. Sie benötigen Visa und Arbeitserlaubnis.
- Da CM als ungelernte Arbeitskräfte gelten, ist es schwer für sie, …