Ausgabe #858 | 7.2.2023
Was ist
Wer den Januar nicht auf einer einsamen Insel und sehr offline verbracht hat, dürfte es mitbekommen haben: KI ist im Alltag vieler Menschen angekommen. Zwei Monate, nachdem OpenAI den Bot ChatGPT für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, haben mehr als 100 Millionen damit herumgespielt (auch wir haben im Dialog mit ChatGPT ein Briefing geschrieben). Keine andere Anwendung ist schneller gewachsen, TikTok brauchte für diese Verbreitung neun Monate, Instagram 2,5 Jahre.
Das macht vor allem einen nervös: Google. Auf viele Fragen gibt ChatGPT bessere Antworten als die Suchmaschine (Michael Tsai). Microsoft steckte kürzlich zehn Milliarden Dollar in OpenAI, das Investment könnte Bing in eine echte Konkurrenz verwandeln. Deshalb hat Google jetzt, früher als geplant, seine Antwort auf ChatGPT vorgestellt: Bard (Google-Blog).
Warum das wichtig ist
Manche Technologien durchlaufen den Hype-Cycle im Eiltempo. Vergangenes Jahr reichte es, die Folien seines Pitchdecks mit Buzzwords wie Blockchain, Krypto oder Web3 zu füllen, um mit Risikokapital von Investorïnnen beworfen zu werden. Natürlich wird auch die aktuelle Aufregung um KI wieder ablaufen – aber wir glauben, dass der Hype mehr als ein Strohfeuer ist und die langfristigen Auswirkungen eher unter- als überschätzt werden.
Bildgeneratoren wie DALL-E, Stable Diffusion könnten unsere Vorstellung von Kunst verändern (Spiegel). ChatGPT hat bereits Reden für Politiker geschrieben (Heise), einen Richter bei seiner Urteilsfindung unterstützt (Vice), politische Kontroversen ausgelöst (Semafor) und sein erschreckendes Potenzial für Desinformation gezeigt (Poynter).
Generative AI, die Fotos, Videos und Texte erzeugt, ist nur eine Möglichkeit, wie maschinelles Lernen den Alltag fundamental verändern könnte. Das Thema ist riesig (Futurepedia), unser Platz ist begrenzt, deine Aufmerksamkeit ebenfalls. Deshalb beschränken wir uns in diesem Briefing auf Sprachmodelle in der Suche und die möglichen Folgen für Medien.
Was Google mit Bard vorhat
- Der Blogeintrag von Sundar Pichai ist vage. Er spricht viel über Googles allgemeine Ausrichtung auf KI und wenig über die konkreten Pläne für Bard.
- Der Dienst beruht auf dem Sprachmodell LaMDA („Language Model for Dialogue Applications“), das Google bereits vor zwei Jahren vorstellte. Der Google-Entwickler Blake Lemoine glaubte, LaMDA habe eine Persönlichkeit, Bewusstsein und Empfindungen (Riffreporter). Er wurde entlassen.
- Bard kombiniert Googles gewaltigen Suchindex mit den Ausdrucksmöglichkeiten eines Sprachmodells. Im Gegensatz zu ChatGPT, dessen Faktenwissen bis Ende 2021 reicht, kann Bard auch aktuelle Fragen beantworten. Damit eignet sich der Dienst besonders gut als Erweiterung der Websuche.
- Google öffnet Bard zunächst nur für ausgewählte „Trusted Tester“, in den kommenden Wochen soll eine breitere Öffentlichkeit Zugang erhalten.
Warum Google so spät dran ist
- Alles, was wir von Google hören, deutet darauf hin, dass Bard leistungsfähiger sein wird als ChatGPT. Seit Jahren tüfteln Entwicklerïnnen dort an Sprachmodellen, von denen die Öffentlichkeit wenig mitbekam.
- Kein Unternehmen hat so viel KI-Kompetenz angehäuft wie Googles Mutterkonzern Alphabet. Die Ergebnisse der Forschung wurden bislang aber unter Verschluss gehalten oder möglichst unauffällig in Produkte integriert.
- Dafür gibt es Gründe: ChatGPT ist richtig schlecht in Mathe (WSJ), gab Anleitungen für den Bau einer Atombombe (Spiegel), setzt sich über eigene Regeln hinweg, wenn man den Bot mit dem Tod bedroht (CNBC), und weigerte sich, ein positives Gedicht über Donald Trump zu schreiben (Forbes) – reimte aber anstandslos eine Ode auf Joe Biden.
- Ein Start-up wie OpenAI kann sich das erlauben – auch wenn die Bezeichnung in die Irre führt, schließlich arbeiten fast 400 Angestellten für das Unternehmen, zusätzlich beschäftigt man Tausende Hilfsarbeiter (Semafor), um die Modelle zu trainieren.
- Gründer Sam Altman wollte unbedingt der Erste sein (NYT), der einen leistungsfähigen AI-Chatbot veröffentlicht. Deshalb wurden im vergangenen November Risiken ignoriert und alles daran gesetzt, möglichst schnell eine erste Version auf den Markt zu bringen. Trotz aller Kontroversen scheint sich die Entscheidung für OpenAI gelohnt zu haben.
- Google kann sich aber keine Pannen leisten. Zu groß ist die Gefahr, den eigenen Ruf zu beschädigen (CNBC). Deshalb reagierte man erst, als die halbe Welt über ChatGPT sprach und keine Wahl mehr blieb.
- Im Dezember wurde intern „Code red“ ausgerufen, um auf die Bedrohung zu reagieren. Sogar die Gründer Larry Page und Sergey Brin kehrten nach vielen Jahren zurück ins Tagesgeschäft (NYT). Wäre OpenAI nicht vorgeprescht, hätte Bard wohl noch eine Weile in der Schublade gelegen.
Wie es mit Chatbots weitergeht
- Am Mittwoch will Google bei einer Veranstaltung in Paris mehr Details über Bard und die Integration in die Suche verraten. Das Event wird per YouTube-Livestream übertragen.
- Bereits am heutigen Dienstagabend zeigt Microsoft in seiner Firmenzentrale in Redmomd, was aus dem Investment in OpenAI werden soll. Vergangene Wochen leakten Screenshots und Informationen, die auf eine Integration von ChatGPT in Bing (The Information) schließen lässt.
- Microsoft kündigte die Veranstaltung öffentlich an (The Verge), wenige Minuten nachdem Google Bard präsentierte. Es gibt leider keinen Livestream, aber garantiert eine Pressemitteilung und viele Medienberichte von vor Ort.