Artifact: Die Instagram-Gründer starten ein neues Projekt

TikTok für Text? Twitter in cool? Google Reader 2.0? So ganz klar ist noch nicht, was Artifact sein soll. Doch bei einem sind wir uns sicher: Wenn Mike Krieger und Kevin Systrom ihre Finger im Spiel haben, lohnt es sich, genau hinzusehen.
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Was ist

Mehr als vier Jahre nach ihrem Ausstieg bei Instagram wollen Mike Krieger und Kevin Systrom die Social-Media-Welt ein zweites Mal erobern. Eine Kombination aus textbasierten Inhalten (Articles, Facts) und maschinellem Lernen (AI) ergeben den Namen: Artifact. Im Zentrum steht ein personalisierter Newsfeed, der aus Links zu Medien und Blogs besteht.

Auf Instagram schreibt Krieger, ein siebenköpfiges Team habe seit mehr als einem Jahr an der App gearbeitet. Bislang gibt es noch keine öffentliche Version, nur eine Warteliste für die private Beta. Wir stehen seit Dienstagabend darauf, haben aber noch keinen Zugang.

Unsere Einschätzungen beruhen deshalb noch nicht auf persönlichen Erfahrungen. Wir halten es trotzdem für sinnvoll, das Projekt näher zu beleuchten. Denn Artifact ist nicht nur spannend, weil die Instagram-Gründer beteiligt sind – das Schicksal der App könnte zeigen, in welche Richtung sich Social Media in den kommenden Jahren entwickelt.

Was über Artifact bekannt ist

  • Die Selbstbeschreibung ist kurz und nichtssagend: "A personalized news feed driven by artificial intelligence". Keine Erklärung, keine Mock-ups, kein Hinweis auf die Gründer. Auch die Twitter- und Instagram-Posts der beiden geizen mit Informationen.
  • Interessanterweise haben Krieger und Systrom den Launch zunächst nicht publikumswirksam in einem reichweitenstarken Medium wie der New York Times platziert, sondern exklusiv mit Casey Newton gesprochen. Der Text erscheint in seinem Newsletter Platformer und bei The Verge – sicher keine Publikationen, die man sich aussucht, wenn man möglichst viele Menschen erreichen will.
  • Später gaben die Gründer auch der FT einige Stellungnahmen. Weitere Artikel mit originären Zitaten haben wir bislang nicht gesehen.
  • Wer die App öffnet, sieht einen personalisierten Feed, der sich aus Artikeln großer Medien und Posts nischiger Blogs zusammensetzt. Diese Timeline basiert ausschließlich auf algorithmischen Vorschlägen. Die Software im Hintergrund soll ähnlich funktionieren wie das Empfehlungssystem von TikTok.
  • In Zukunft soll es möglich sein, selbst Artikel zu teilen und anderen Nutzerïnnen zu folgen. Diese werden dann in einer separaten Timeline angezeigt, zusammen mit Anmerkungen und Kommentaren.
  • Das erinnert an den Following-Tab von Twitter. Allerdings lässt Artifact ausschließlich Beiträge zu, die Links enthalten. Schlechte Witze und Selfies muss man also weiter auf Twitter und Insta posten.

Was sich die Gründer erhoffen

  • Systrom und Krieger denken bereits seit einigen Jahren auf der Idee herum. Systrom sagte Casey Newton, dass er sich mit Krieger einig war – bevor sie erneut ein Start-up gründen, müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein:

One, a big new wave in consumer technology that he and Krieger could attempt to catch. Two, a way to connect that wave to social technology, which he and Krieger continue to feel invested in emotionally. And three, an idea for how their product could solve a problem — Systrom has long considered technology design from the standpoint of what jobs it can do for its customers.

  • Die beiden sind überzeugt, dass die enormen Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens neue Möglichkeiten für soziale Netzwerke eröffnen. Algorithmische Empfehlungen seien viel besser geworden, was man am Erfolg von TikTok sehe:

I saw that shift and I was like, oh, that's the future of social. These unconnected graphs; these graphs that are learned rather than explicitly created. And what was funny to me is as I looked around, I was like, man, why isn't this happening everywhere in social? Why is Twitter still primarily follow-based? Why is Facebook?

  • Systrom und Krieger glauben, dass es einen Markt für eine App gibt, die seriöse Informationen liefert, die zu den Interessen der Nutzerïnnen passen, ohne dass diese viel Zeit mit der Auswahl der Quellen verbringen müssen.
  • Die beiden Gründer sehen Artifact auch als Lösungsansatz für Probleme wie Nachrichtenvermeidung und Desinformation. Der FT sagte Systrom:

And it is particularly a timely moment to focus on text when we need it most because of people’s attention to misinformation and how we consume news today.

Was für den Erfolg von Artifact spricht

  • Die Gründer: Instagram ist eine der erfolgreichsten Apps der Welt. Dazu hat, bei aller gerechtfertigten Kritik, auch Meta beigetragen, das Instagram 2012 für rund eine Milliarde Dollar übernahm. Immer wieder ruinieren große Konzerne kleine Start-ups, nachdem sie die Idee und das Personal einkaufen. Mark Zuckerberg hat Instagram nicht nur zum richtigen Zeitpunkt geschluckt, sondern auch in eine Gelddruckmaschine verwandelt. Noch wichtiger als der Käufer waren aber die Gründer: Systrom und Krieger haben damals bewiesen, dass sie ein gutes Gespür dafür besitzen, welches Produkt fehlt. Instagram überzeugte nicht nur als Fotoplattform mit innovativen Filtern, die App war auch schön designt, solide programmiert und fühlte sich einfach gut an. Das sind gute Voraussetzungen für Artifact.
  • Machine Learning: Die Inhalte auf Facebook, Instagram und Twitter basieren überwiegend auf dem eigenen sozialen Netzwerk. TikTok überlässt die Kuratierung ausschließlich Algorithmen und wächst schneller als alle anderen Apps zuvor. Dieser Erfolg zeigt die krasse Entwicklung, die maschinelles Lernen genommen hat – und noch wichtiger: Offenbar wollen Menschen Inhalte empfohlen bekommen, ohne sich Gedanken darum zu machen, wem sie folgen und was sie abonnieren.
  • Die Schwäche der anderen: Als Reaktion auf den Siegeszug von TikTok pusht Zuckerberg das Metaverse und versucht, Facebook und Instagram neu auszurichten. Die Discovery Engine soll den Social Graph ergänzen, der Anteil der algorithmisch vorgeschlagenen Inhalte soll steigen. Das ist aber mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Instagram wirkt immer überladener, Reels sind noch nicht der erhoffte Erfolg (mehr dazu in Ausgabe #814). Artifact kann ohne Ballast und Erwartungen starten, weder Kylie Jenner noch Kim Kardashian werden fordern: "Make Instagram Instagram again". Und Twitter … ach, wir wollen nicht schon wieder darüber reden und belassen es bei ein paar Links: 840, 847, 849, 853. Die FT zitiert Systrom dazu so: "It is a particularly timely moment both in the technology industry, with Twitter’s takeover by Elon and Facebook’s focus on the Metaverse."
  • Der Erfolg von Toutiao: Der erste Hit von ByteDance war nicht TikTok, sondern Toutiao. Die chinesische App macht ziemlich genau das, was Systrom und Krieger vorhaben – und hat damit seit 2012 mehr als 300 Millionen Nutzerïnnen angelockt. Offenbar gibt es also einen Markt für diese Idee.

Was gegen den Erfolg von Artifact spricht

  • Die neue Social-Media-Welt: Systrom und Krieger gründeten Instagram vor 13 Jahren. Damals antizipierten sie, dass bald die halbe Welt mit einer Kamera in der Hosentasche herumlaufen würde. Doch 2023 lässt sich nicht mit 2010 vergleichen. Instagram verwandelte überwiegend textbasierte soziale Netzwerke in Fotoplattformen, längst wurden statische Bilder durch Bewegtbild abgelöst. Die meisten Plattformen setzen auf visuelle Stories und mobile Kurzvideos im Hochkant-Format. Jetzt wieder auf Text zu setzen, ist gewagt.
  • Die gescheiterte Konkurrenz: Zite, Pulse, SmartNews, Circa, Matter: Das ist nur eine kleine Auswahl der Apps, die Artikel, Algorithmen oder soziale Funktionen kombinieren. Etliche sind gescheitert, einige fristen ein Nischendasein, keine hat den Durchbruch geschafft.
  • Der TikTok-Mythos: Der Algorithmus gilt als Wunderwaffe von TikTok. Tatsächlich sind die maschinellen Empfehlungen nur einer von mehreren Erfolgsfaktoren. TikTok hat ein neues Format geprägt, das Nutzerïnnen kreative Ausdrucksformen ermöglicht – und es hat viele Milliarden in aggressive Werbung gesteckt (Mobile Dev Memo), die maßgeblich zur schnellen Verbreitung beitrug. Systrom und Krieger haben durch den Instagram-Verkauf gut 700 Millionen Dollar eingenommen – aber sie haben nicht das Budget, das ByteDance hatte, um TikTok zu pushen.
  • Die Leseerfahrung: John Gruber ist einer der wenigen Menschen, denen wir folgen, der Artifact bereits getestet hat. Seine ersten Eindrücke (Daring Fireball) klingen etwas ernüchternd:

I’ll give it some time, but at the moment, it’s a disappointment. The articles they show come directly from publishers’ websites, but because Artifact isn’t a web browser, per se, there’s no ad filtering. It’s just ads ads ads, interrupting seemingly every single article, every couple of paragraphs. This same “man, I miss ad blockers” feeling strikes me when I use Apple News too, but Apple News articles have way fewer ads, and better ads, than what I’m seeing so far in articles I read in Artifact. “Like Apple News but worse” is not a good elevator pitch.

Welche Fragen offen bleiben

  • Wer ist die Zielgruppe? Wer beruflich auf Informationen angewiesen ist, dürfte Apps bevorzugen, die Nutzerïnnen mehr Kontrolle über die Inhalte geben. Wir setzen dafür auf RSS-Reader, die es uns ermöglichen, unsere Quellen komplett selbstbestimmt zusammenstellen. Nur so können wir sicher sein, keine relevanten News zu verpassen. Menschen, die sich nicht besonders für journalistische Inhalte interessieren, brauchen vermutlich auch keine eigene App dafür. Viele News-Junkies haben mindestens ein Medium abonniert und lesen dort.
  • Nach welchen Kriterien werden inhaltliche Entscheidungen getroffen? Algorithmen hin oder her, irgendjemand muss Leitlinien setzen. Welche Medien und Blogs landen auf der Liste, aus der Maschinen Inhalte herauspicken? Wie breit ist das politische Spektrum, das Artifact abdecken möchte? Was sind "qualitativ hochwertige Informationen", die im Zentrum stehen sollen? Wo verläuft die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Desinformation, die Systrom und Krieger für so gefährlich halten?
  • Wie finanziert sich Artifact: Die beiden Gründer haben einen einstelligen Millionenbetrag aus eigener Tasche in die App gesteckt. Ein Geschäftsmodell ist noch nicht in Sicht. Wenn es um Online-Artikel geht, ist Werbung denkbar. Falls Artifact groß wird, könnten auch ein Abo-Modell oder Kooperationen mit Verlagen lukrativ sein.

Be smart

Das Wenige, was wir über Artifact gewissen, gefällt uns. Die Kombination aus Vergangenheit (Text) und Gegenwart (AI) klingt spannend. Wir mögen auch, was Systrom und Krieger über den Kampf gegen Desinformation sagen, wie viel Wert sie offenbar auf Factchecking legen und mit welchen Methoden sie den Newsfeed diversifizieren wollen. Der FT sagte Systrom:

It is really important to us to dedicate some portion of the feed which we do to exploring tangential interests, other sides of issues, publishers you would not normally see.

Mit ihrem Ausstieg bei Instagram haben die beiden gezeigt, dass sie zumindest ein paar Prinzipien haben, die ihnen wichtig sind. In einer Social-Media-Welt, die von Meta, Musk und TikTok dominiert wird, wäre das eine willkommene Bereicherung.

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