Splinternet: Wie der Krieg das Internet spaltet | Was Meta plant, um in Sachen Video nicht abgehängt zu werden | TikTok sucht Podcast-Mitarbeiter

Salut und herzlich willkommen zur 781. Ausgabe des Social Media Briefings. Heute blicken wir darauf, wie der Krieg in der Ukraine das Internet spaltet. Zudem lernen wir, was Meta alles plant, um in Sachen Video nicht abgehängt zu werden. Darüber hinaus erfahren wir, dass TikTok Podcast-Mitarbeiter sucht. Wir bedanken uns für das Interesse an unserem Newsletter und freuen uns über Empfehlungen an Kollegïnnen! Merci, Martin und Simon
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Der Krieg spaltet das Internet

Was ist

Der Traum eines World Wide Web, das seinem Namen gerecht wird, ist schon lange eine Illusion. Das "globale Dorf", in den das Internet die Welt verwandeln sollte, hat noch nie existiert. Die Menschen in China leben hinter der "Great Firewall". Staaten wie Indien, Belarus, Äthiopien oder die Türkei zensieren das Netz.

Auch Russland schottet seine Bevölkerung seit Jahren von unabhängigen Informationen ab. Doch in den vergangenen Tagen ist die Lage komplett eskaliert. Während russische Raketen ukrainische Städte in Schutt und Asche legen, zerstört Wladimir Putin auch den letzten Rest der Informationsfreiheit in seinem Land.

Damit zerfällt das Netz immer weiter. Es gibt ein Western Wide Web und mehrere Splinternets, zu denen auch das russische Internet zählt. Neue Gesetze beschneiden die Pressefreiheit, die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor verbietet große Plattformen, russische Behörden wollen offenbar auch die technische Infrastruktur vom Rest der Welt abschneiden. Wir dokumentieren die Entwicklungen und ordnen sie ein.

Wie Russland sich abschottet

  • Das Parlament hat ein Bündel an drakonischen Gesetzen (Zeit) erlassen. Diese verbieten unter anderem Berichtserstattung über das Militär, die von der Darstellung des Verteidigungsministeriums abweicht.
  • Wer nicht die staatliche Propaganda verbreitet, macht sich strafbar. Krieg? Gibt es nicht, Russland führt eine "Spezialoperation" durch.
  • Der unabhängige Journalismus innerhalb Russlands ist am Ende, fast alle kremlkritischen Medien haben ihre Arbeit eingestellt (Spiegel).
  • Für Verstoße drohen bis zu 15 Jahre Haft – und die Vergangenheit zeigt, dass das keine leere Drohung ist. Die krassen Einschränkungen gelten nicht nur für die eigene Bevölkerung und russische Medien, sondern auch für Korrespondentïnnen aus dem Ausland.
  • Parallel hat Russland Facebook und Twitter gesperrt (Zeit). Dazu muss man allerdings wissen, dass die beiden Plattformen in Russland verhältnismäßig klein sind. Deutlich mehr Menschen nutzen YouTube, WhatsApp und Instagram – die weiter online sind.
  • Die Blockade ist deshalb eher als Signal an den Westen zu verstehen (Washington Post):

Blocking Facebook, then, is less of a broadside against social media in Russia than it is a shot across the bow — a dramatic but largely symbolic act that serves as a warning and a threat. Because Facebook is so prominent in the West, the block stands to make big headlines outside Russia while provoking relatively little outcry from within.

  • Neben Gesetzen und Sperren zeichnet sich ein technischer Eingriff ab, der die russische Infrastruktur vom Rest des Internets abklemmen könnte. Das zuständige Ministerium hat offenbar entsprechende Maßnahmen angeordnet (Twitter / Nexta), die größtenteils binnen weniger Tagen umgesetzt werden müssen.
  • Unter anderem sollen alle Dienste und Anbieter, die in Russland öffentlich zugänglich sind, auf russische DNS-Server wechseln. Bis zum 15. März sollen sämtliche Top-Level-Domains auf .ru-Adressen umgezogen werden.
  • Golem beschreibt die technischen Details und erklärt die möglichen Folgen:

Werden all diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt, wissen die Behörden in Russland nicht nur, welche Webseiten oder Dienste in Russland bereitstehen. Durch den erzwungenen Umzug auf russische DNS- und Hosting-Server haben die Behörden auch einen weitgehenden Zugriff auf diese Angebote. Beides ermöglicht praktisch eine vollständige staatliche Zensur und Blockade für das Internet innerhalb des Landes.

Wie Medien und Plattformen reagieren

  • Viele internationale Medien setzen ihre Berichtserstattung aus oder haben sich ganz aus Russland zurückgezogen. Auch ARD, ZDF und das Deutschlandradio berichten vorerst nicht mehr aus Moskau. Zunächst möchte man die Auswirkungen des neuen Mediengesetzes prüfen.
  • In der vergangenen Ausgabe #780 zählten wir bereits mehrere Reaktionen der Plattformen auf. Seitdem sind etliche neue Maßnahmen hinzugekommen.
  • Meta und Google blockieren etwa Werbung aus Russland. Netflix nimmt keine neuen Abonnentïnnen mehr an und wird den Dienst bald komplett einstellen (SZ).
  • Etliche Tech-Konzerne verkaufen keine Produkte und digitalen Dienste mehr in Russland, darunter Apple, Samsung, Microsoft und Adobe (Axios).
  • Am vergangenen Freitag begann TikTok, Inhalte staatlicher Medien zu kennzeichnen (TikTok-Newsroom) und das Vorgehen gegen Desinformation zu verschärfen.
  • Zwei Tage später verschärfte TikTok sein Vorgehen drastisch:

Angesichts des neuen russischen "Fake News"-Gesetzes haben wir keine andere Wahl, als Livestreaming und neue Inhalte für unseren Videodienst in Russland auszusetzen, während wir die Auswirkungen dieses Gesetzes auf die Sicherheit prüfen.

  • Auf Nachfrage teilte eine Sprecherin mit, dass TikTok-Nutzerïnnen derzeit auch keine Videos sehen können, "die von Creatorinnen an anderen Orten eingestellt wurden. Dies gilt, während wir die Entwicklung der Bedingungen in Russland weiter bewerten.“ TikTok ist in Russland damit weitgehend tot.
  • Wir werden die Rolle, die TikTok in diesem Krieg spielt, in einer der kommenden Ausgaben noch einmal ausführlicher beleuchten. Dafür müssen wir aber noch mehr Zeit in der App verbringen und mit Menschen sprechen, die sich besser mit der Ukraine und Russland auskennen als wir.
  • Noch drastischere Auswirkungen könnte die Reaktion eines weniger bekannten Unternehmens haben: Cogent ist einer der größten Backbone-Provider und leitet bis zu einem Viertel des globalen Datenverkehrs weiter. Nun beginnt Cogent offenbar (ZDnet), die Verträge mit einigen russischen Kunden zu kündigen.
  • Die NGO Internet Protection Society setzt sich für digitale Freiheit und gegen Zensur in Russland ein. Ihr Vorsitzender Mikhail Klimarev appelliert, Russland nicht komplett vom Netz abzuschneiden (Washington Post):

I would like to convey to people all over the world that if you turn off the Internet in Russia, then this means cutting off 140 million people from at least some truthful information. As long as the Internet exists, people can find out the truth. There will be no Internet — all people in Russia will only listen to propaganda.

Welche Dienste übrig bleiben

  • Die größten Netzwerke in Russland heißen: YouTube (74,5 Prozent der Internetnutzerïnnen sind mindestens einmal im Monat dort), WhatsApp (66,3%), VK (62%), Instagram (51,1%) und Odnoklassniki (32,7%).
  • Diese Dienste sind alle noch online, allerdings ist die freie Meinungsäußerung dort stark eingeschränkt. Nutzerïnnen müssen drakonische Strafen fürchten, wenn sie den Krieg einen Krieg nennen oder es wagen, Putin zu kritisieren.
  • Ausgerechnet Telegram entwickelt sich sowohl in Russland als auch in der Ukraine zu einer Quelle für vergleichsweise unabhängige Informationen (NBC).
  • Am ersten Kriegswochenende hatte Pavel Durov zwischenzeitlich erwogen, den Messenger in beiden Ländern abzuschalten, solange der Krieg andauert. Nach wenigen Stunden verwarf er die Idee und schrieb (TASS):

Many users have asked us not to look at blocking Telegram channels during the conflict because we are the only source of information for them. Bearing in mind these requests, we have decided not to look at such measures. However, I ask once again in this difficult period to verify information and not to take any data published in Telegram channels for granted.

  • Wir finden den Post nicht in seinem Telegram-Kanal und können deshalb nur die russische Nachrichtenagentur TASS zitieren. Da Durov aber auf Twitter einen Guardian-Artikel verlinkt, in dem dasselbe Zitat (mit Bezug auf TASS) auftaucht, gehen wir davon aus, dass es stimmt.
  • Gleichzeitig bleibt Telegram aber eine hochproblematische Plattform, die strafbare Inhalte ignoriert – und auf der Rechtsextreme aus der Ukraine deutsche Neonazis für den Krieg rekrutieren (Twitter / Christian Fuchs).
  • Ende-zu-Ende-verschlüsselt ist Telegram natürlich auch nicht, man muss dem Betreiber vertrauen. Die EFF bietet deshalb eine gute Einführung für neue Nutzerïnnen aus Russland und der Ukraine. Die Tipps, wie sich Telegram halbwegs sicher nutzen lässt, sind auch für Menschen aus anderen Ländern hilfreich.

Be smart

Wir haben in den vergangenen Tagen mehrfach gesehen, wie sich Menschen in unseren Timelines gegenseitig anpöbeln: Wie kannst du nur ein harmloses Urlaubs-Selfie posten, wenn in Europa Krieg ist? Warum soll es nur ein einziges Thema geben dürfen, darf ich gar keinen Spaß mehr am Leben haben?

Auch über den angemessenen Umgang mit den schrecklichen Nachrichten wird gestritten: Die einen flüchten sich in Eskapismus und propagieren Achtsamkeit, die anderen verdammen das. Jetzt sei es Bürgerïnnenpflicht, sich zu informieren. Man müsse Medien konsumieren, demonstrieren und helfen.

Wir sind uns ziemlich sicher, dass du keiner dieser Menschen bist und diese Bitte unnötig ist. Trotzdem: Können wir uns darauf einigen, dass es in solchen Situationen kein richtiges oder falsches Verhalten gibt?

Angst und Bestürzung empfinden wir alle. Manchen hilft es, fünf Stunden am Tag Nachrichten zu lesen und ihre Follower daran teilhaben zu lassen. Andere meiden kleinteilige News und sehnen sich nach kurzzeitiger Ablenkung. Beides ist okay.

Social Media & Politik

  • Welche politischen Inhalte sind auf TikTok verboten? Natürlich gar keine, würden Unternehmenssprecherïnnen antworten. Um eine unabhängige Antwort auf die Frage zu erhalten, startet die Mozilla Foundation ein neues Projekt. Das sogenannte TikTok Observatory nutzt dafür eine Mischung aus Crowdsourcing, Scraping und Bot-Technologien. Derzeit konzentrieren sich die Forscher insbesondere auf die Herabstufung politischer Inhalte in nicht englischsprachigen Ländern. Sobald die ersten Ergebnisse vorliegen, werden wir darüber berichten.

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