Spotifys Joe-Rogan-Problem: Warum der Fall besonders ist

Was ist

Spotify stand bislang eher selten im Fokus dieses Newsletters. Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen kommen wir aber nicht mehr daran vorbei. Spotify ist kein soziales Netzwerk, aber trotzdem eine wichtige Online-Plattform, die Inhalte hostet und selbst anbietet. Und die, das zeigt die Debatte um den Podcast-Host Joe Rogan, genau wie Facebook oder YouTube Richtlinien für den Umgang mit Desinformation benötigt.

Wie die Kontroverse entstanden ist

  • Noch bevor Neil Young ins Spiel kommt und alle Medien darauf anspringen, schreiben Hunderte Forscherinnen und Ärzte einen offenen Brief an Spotify.
  • Sie kritisieren, dass im Podcast Joe Rogan Experience (JRE) immer wieder vermeintliche Expertïnnen zu Wort kommen, die dort längst widerlegte Fehlinformationen und Verschwörungserzählungen über das Coronavirus verbreiten und damit ein Millionenpublikum erreichen.
  • Ihre Forderung ist eindeutig: "We, the undersigned doctors, nurses, scientists, and educators thus call on Spotify to immediately establish a clear and public policy to moderate misinformation on its platform."
  • Kurz darauf weist Neil Young sein Management und Label an (Rolling Stone), seine gesamte Musik von Spotify zu entfernen: "They can have Rogan or Young. Not both."
  • In einem weiteren Blogeintrag legt Young wenig später nach, nennt Spotify eine Quelle für lebensbedrohliche Covid-Desinformation und fordert andere Musikerïnnen und Label auf, es ihm gleichzutun.
  • Auf Twitter bedankt sich WHO-Präsident Tedros Adhanom Ghebreyesus bei Young für dessen Protest – und bekannte Künstlerïnnen schließen sich an.
  • Die Sängerin Joni Mitchell und Nils Lofgren (Rolling Stone), Gitarrist bei der E-Street-Band und Crazy Horse, entfernen den Großteil ihrer Alben bei Spotify. Auch David Crosby sagt, er würde sich gern beteiligen (Twitter). Dummerweise hat er die Veröffentlichungsrechte für seine Musik im vergangenen Jahr verkauft (Rolling Stone).
  • Es bleibt nicht auf Musikerïnnen beschränkt. Meghan Markle und Prinz Harry geben über ihren Sprecher bekannt (CNN), dass sie Youngs Kritik teilen. Demnach haben sie das Problem schon vor fast einem Jahr bei Spotify adressiert.
  • Das prominente Paar hat genau wie Rogan einen Exklusiv-Podcast bei Spotify, deshalb ist das öffentliche Statement für Spotify brisant. Das gilt auch für Brené Brown, die ihren Podcast ebenfalls auf Spotify veröffentlicht, aber bis auf Weiteres keine neuen Episoden mehr produzieren wird (Twitter).
  • Die vielleicht schlimmste Drohung kommt von einem Menschen, der fürchterliche Songs, aber sehr lustige Tweets schreibt. James Blunt setzt Spotify die Pistole auf die Brust (Twitter):

If Spotify doesn’t immediately remove Joe Rogan, I will release new music onto the platform. #youwerebeautiful

Wie Spotify reagiert

  • Selbst Blunts Drohung beeindruckt Spotify nicht, die JRE bleibt online.
  • Zunächst sieht es so aus, als wolle Spotify die Vorwürfe einfach aussitzen. Dann leakt The Verge Spotifys Standards zum Umgang mit Corona-Content.
  • Die Richtlinien bestehen aus gerade mal sechs Sätzen und sind sehr spezifisch. Man darf etwa behaupten, dass Masken nutzlos und Impfungen potenziell tödlich sind – nur nicht, dass Masken der Trägerin unmittelbaren, lebensbedrohlichen Schaden zufügt und Impfungen absichtlich so entwickelt wurden, dass sie tödliche Komplikationen auslösen.
  • Zwei Tage später veröffentlicht Spotify-Chef Daniel Ek einen Blogeintrag und zeigt, dass "Ek and Zuck" nicht nur ein guter Name für eine Boyband wäre: Das Statement erinnert rhetorisch und inhaltlich (Bloomberg) an professionelle Krisen-PR von Facebook.
  • Joe Rogan und Neil Young werden nicht erwähnt, aber es ist klar, worum es geht: "You’ve had a lot of questions over the last few days about our platform policies and the lines we have drawn between what is acceptable and what is not."
  • Dass Menschen "viele Fragen hatten", ist eine klitzekleine Untertreibung, aber nun gut. Jedenfalls nimmt Spotify die "Fragen" zum Anlass, die zuvor geleakten Richtlinien auch offiziell transparent zu machen (Spotify-Newsroom).
  • Zudem will Spotify, nach dem Vorbild anderer Plattformen, Hörerïnnen auf das "Covid-19 Hub" hinweisen, wo verlässliche Informationen gesammelt werden.

Wie Joe Rogan reagiert

  • Rogan äußert sich auf Instagram. Unsere erste, zugegeben sehr oberflächliche Reaktion: Wer sagt dem Mann, dass es sich bei einem Video, das bislang mehr als sieben Millionen Menschen gesehen haben, lohnen könnte, ein Stativ zu nutzen und sich kurz Gedanken über das Licht zu machen, statt sich fast zehn Minuten in der Froschperspektive zu filmen, uns mit dem Schattenwurf des Smartphones und ständigen Wacklern verrückt zu machen, einen halben Meter Headspace zu lassen und mit zusammengekniffenen Augen gegen die tiefstehende Sonne zu sprechen?
  • Aber hey, mit 14,3 Millionen Instagram-Followern hat Rogan ungefähr 5000 Mal mehr als der Watchblog-Account. Wir predigen zwar immer, dass Zahlen allein wertlos sind, aber vielleicht sollten wir trotzdem die Klappe halten.
  • Inhaltlich gibt sich Rogan ungewohnt zahm und defensiv. Er bedankt sich bei allen Menschen, die ihn unterstützt haben und versichert, dass er die Entscheidung von Young und Mitchell bedauere, aber respektiere: "Es tut mir sehr leid, dass sie sich so fühlen, das ist ganz sicher nicht, was ich möchte. Ich bin ein großer Neil-Young-Fan."
  • Rogan räumt Fehler ein und verspricht etwa, sich künftig besser über kontroverse Themen zu informieren, bevor er mit Gästen darüber spricht.
  • Das klingt vernünftig, dürfte aber wenig an der grundsätzlichen Ausrichtung seiner Show ändern. Rogan lädt Menschen ein, die ihn interessieren – und das sind oft Personen, die polarisierende Meinungen vertreten.
  • Wir möchten das "Soll man mit Rechten reden?"-Fass an dieser Stelle nicht aufmachen (unsere Meinung: öffentlich nur in Ausnahmefällen und mit guter Vorbereitung). Ziemlich sicher sind wir uns aber, dass es meist keine gute Idee ist, Menschen eine Bühne zu geben, die während einer Pandemie medizinische Falschbehauptungen verbreiten.
  • Und die Bühne, die Rogan ihnen bietet, ist gewaltig. Im Schnitt wird jede Folge von elf Millionen Menschen gehört, kein anderer Podcast kommt auf eine vergleichbare Reichweite.
  • Rogan selbst ist nicht rechts (er unterstützte Bernie Sanders) und auch kein Impfgegner (SZ), aber er hat ein seltsames Verhältnis zur Wissenschaft und ein problematisches Verständnis von Meinungsfreiheit.
  • Man kann argumentieren, dass (fast) alle Meinungen gehört und diskutiert werden sollten. Doch Menschen wortwörtlich ein Mikrofon unter die Nase zu halten, die gefährlichen Unsinn von sich geben (Tagesschau), und diesen Unsinn unwidersprochen zu lassen (Pixel Envy), trägt nicht zu einer pluralistischen Gesellschaft bei, sondern gefährdet Menschenleben.

Warum der Fall besonders ist

  • Auf den ersten Blick wirkt es wie ein weiteres Content-Moderation-Problem, das über kurz oder lang jede Plattform trifft (NYT):

If this scenario sounds familiar, it’s because a version of it has occurred on every major internet media platform over the last half decade. Facebook and Alex Jones, Twitter and Donald Trump, YouTube and PewDiePie, Netflix and Dave Chappelle: Every major platform has found itself trapped, at some point, between this particular rock and a hard place.

  • Spotify ist damit nicht vergleichbar, und dafür gibt es mehrere Gründe.
  • Erstens hat Spotify 2020 für mehr als 100 Millionen Dollar die Exklusivrechte an der Joe Rogan Experience gekauft. Spotify ist keine neutrale Plattform, sondern eine Art Verleger oder Herausgeber (Garbage Day): "This isn’t content moderation. It isn’t censorship. It’s an editorial choice. They paid $100 million to be Joe Rogan’s publisher and this is what that entails."
  • Zweitens finanziert sich Spotify in erster Linie durch Abos, nicht durch Anzeigen. Der öffentliche Druck, den Werbekunden ausüben könnten, hält sich also in Grenzen. (Wobei Versuche, Facebook oder YouTube durch einen Anzeigenboykott zum Handeln zu zwingen, eher nicht dafür sprechen (Axios), dass solche Aktionen all zu viel bewirken.)
  • Drittens ist Spotify abhängig von den Künstlerïnnen, deren Musik es anbietet. Das ist gefährlich, falls Young weitere prominente Nachahmerïnnen findet (Twitter / Carlos Maza): "The way Taylor Swift could end Joe Rogan with a single tweet at Spotify."
  • Viertens kann man Joe Rogan nicht mit Alex Jones oder Donald Trump vergleichen. Er mag ein Dampfplauderer sein, hat seine eigene Covid-Infektion mit dem Entwurmungsmittel Ivermectin behandelt, klagt über vermeintliche "Cancel Culture" und verwechselt Meinungen mit Fakten. Aber er ist kein Nazi, kein Rassist und kein Verschwörungsideologe.

Wie es weitergehen könnte

  • In den vergangenen Tagen trendete auf Twitter der Hashtag #DeleteSpotify. Angeblich kam der Support angesichts der Kündigungswelle nicht mehr hinterher, sodass man zwischenzeitlich gar nicht mehr kündigen konnte (Twitter / Tristan Snell).
  • Die 270 Forscher, Medizinerinnen und Pfleger, die den zu Beginn erwähnten offenen Brief an Spotify unterzeichnet hatten, sind von Spotifys Reaktion wenig angetan. "It’s designed to look like they’re doing something, but they’re not doing anything. It’s more spectacle than substance", sagt eine der Autorinnen (Rolling Stone).
  • Tatsächlich lassen Eks Blogeintrag und Spotifys Richtlinien einige Fragen offen. Wir wundern uns etwa über Formulierungen wie:

Breaking the rules may result in the violative content being removed from Spotify. Repeated or egregious violations may result in accounts being suspended and/or terminated.

Oder:

Content that promotes dangerous false or dangerous deceptive medical information that may cause offline harm or poses a direct threat to public health includes, but may not be limited to: (…)

  • Warum werden Regelverstöße nur im Konjunktiv geahndet? Warum listet Spotify konkrete Fälle von gefährlicher medizinischer Fehlinformation auf, um selbst einzuschränken, dass womöglich auch noch andere Äußerungen verboten sind?
  • Im Vergleich zu anderen Plattformen wirken diese Richtlinien unvollständig. Trotzdem glauben wir, dass es ein Schritt in die richtige Richtung war, die Standards zu veröffentlichen.
  • Wir bezweifeln auch, dass Vice mit seiner Überschrift Recht behalten wird: "Thanks to Joe Rogan, People Forced to Notice That Spotify Sucks".
  • Die Plattform bezahlt Künstlerïnnen schlechter als andere Streaming-Dienste und bietet Musik in minderwertiger Qualität an. Den meisten Menschen war das aber schon immer egal, und daran dürfte sich auch nichts ändern.
  • Bislang sieht es nicht so aus, als schlössen sich Stars wie Drake oder Taylor Swift dem aktuellen Protest an. Wenn das so bleibt, dürften Spotify und Rogan die Kontroverse halbwegs unbeschadet überstehen.
  • Unabhängig davon hoffen wir, dass Spotify aus dem Fall lernt und sich an anderen Plattformen orientiert. Es braucht Transparenzberichte (bislang weiß niemand, wie die Regeln tatsächlich angewandt werden), Warnhinweise bei Desinformation und Falschbehauptungen und ein größeres Content-Moderation-Team.
  • Klar ist aber auch: Joe Rogan wird nicht der letzte Podcast-Host sein (Platformer), der Spotify in Erklärungsnot bringt:

Maybe Rogan still fits in that model; maybe he doesn’t. But no matter what path it chooses, I suspect that many similar controversies lie in Spotify’s future. The price of owning so many big podcasts is owning the hosts’ politics, too. And it’s now clear that the biggest artists on the platform are listening closely.


Header-Foto von Joel Cross