Salut und herzlich Willkommen zur 615. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute beschäftigen wir uns mit dem Datensatz, den Facebook Wissenschaftlerïnnen bereitstellt, um Facebook besser zu erforschen. Ferner geht es um Bloombergs Social-Media-Strategie und Apps, die vor Apps schützen. Wir bedanken uns für das Interesse an unserem Newsletter und wünschen einen angenehmen Dienstag! Simon und Martin

Facebook teilt seinen Datenschatz mit Wissenschaftlerïnnen – mit Einschränkungen

Was ist: Rohdaten in einer Größenordnung von einer Million Terabyte, mehr als zehn Milliarden Datenpunkte zu 38 Millionen URLs – diesen Datensatz gibt Facebook für die Forschung frei (Social Science One). Allerdings kommt die Veröffentlichung mit fast zwei Jahren Verspätung, und es gibt wichtige Einschränkungen.

Warum das wichtig ist: Erstmals erhalten unabhängige Wissenschaftlerïnnen, die nicht von Facebook bezahlt werden, direkten Zugriff auf derart umfangreiche Facebook-Daten. Das betrifft nicht nur den Umfang, sondern auch die Detailtiefe: Einige der enthaltenen Informationen hatte Facebook jahrzehntelang unter Verschluss gehalten. Sie könnten wertvolle sozialwissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen.

„Die Dringlichkeit dieser Forschung kann gar nicht überschätzt werden“, schrieben die beiden Leiter der Initiative Social Science One bereits im vergangenen Jahr. In ihrer aktuellen Ankündigung machen Gary King und Nathaniel Persily die Bedeutung klar. Wissenschaftlerïnnen könnten damit „einige der wichtigsten Fragen unserer Zeit erforschen, was den Einfluss von Social Media auf die Demokratie und Wahlen angeht“.

Was der Datensatz enthält: Es geht um 38 Millionen URLs, die zwischen Januar 2017 und Juli 2019 mindestens 100 Mal öffentlich geteilt wurden. Wissenschaftlerïnnen, denen Facebook Zugriff gewährt, sehen Informationen über die Links, etwa ob sie als Falschmeldung eingestuft oder von Nutzerïnnen gemeldet wurden. Zudem erfahren sie in aggregierter, anonymisierter Form, wer mit den Links interagiert hat. Den genauen Inhalt beschreibt Social Science One in diesem PDF-Dokument.

Warum es so lange gedauert hat: Im April 2018 schrieben Facebooks Kommunikationschef Elliot Schrage und David Ginsberg, der die Forschungsabteilung leitet: „Heute kündigt Facebook eine neue Initiative an, um unabhängige glaubwürdige Forschung zum Einfluss von Social Media auf Wahlen zu ermöglichen.“ Es war der Start des Projekts Social Science One, das Wissenschaftlerïnnen kontrollierten Zugriff auf Daten Tech-Unternehmen geben sollte.

Die beiden leitenden Forscher King und Persily gingen damals davon aus, dass es zwei Monate dauern werde, bis sie und ihre Kollegïnnen mit den Daten arbeiten können – tatsächlich dauerte es nun fast zwei Jahre. Die Verzögerung hat mehrere Gründe:

  • King und Persily dachten, dass Facebook bereits technische, politische und juristische Vorarbeit geleistet hätte. De facto steckte das Projekt damals aber noch in den Kinderschuhen, und die beiden Forscher verbrachten die vergangenen 20 Monate damit, mit Facebook zu verhandeln.
  • Eine zentrale Herausforderung war es, die Daten zu anonymisieren, um keine Rückschlüsse auf einzelne Nutzerïnnen zuzulassen. Davor hatten die Electronic Frontier Foundation und andere Datenschützerïnnen gewarnt.
  • Facebook und die Forscherïnnen probierten unterschiedliche Methoden aus, bis sie sich schließlich das Konzept Differential Privacy adaptierten. Vereinfacht gesagt versehen sie die Daten mit einem gewissen Rauschen, damit sie nicht mehr deanonymisiert werden können. Auch andere Unternehmen wie Apple nutzen diese Technik, um Datensätze auszuwerten und gleichzeitig die Privatsphäre der enthaltenen Personen zu wahren.
  • Früher konnten Wissenschaftlerïnnen viele wertvolle Daten über Facebooks APIs sammeln, diese Schnittstellen wurden nach der Cambridge-Analytica-Affäre allerdings abgedreht.
  • Cambridge Analytica war Katalysator und Hindernis zugleich: Ohne den Skandal gäbe es Social Science One wohl erst gar nicht – aber Facebook will ein ähnliches Fiasko unbedingt verhindern und ist deshalb vorsichtig bis restriktiv, was das Teilen von Daten angeht.
  • Ein weiteres Problem war die DSGVO, genauer gesagt: Facebooks Interpretation der DSGVO. Das Unternehmen legte die Datenschutzvorschriften offenbar sehr streng aus und wollte bloß kein Risiko eingehen – ein Ansatz, den Facebook bei Daten, die sich kommerziell verwerten lassen, nicht immer genauso konsequent verfolgt.
  • Manche der beteiligten Forscherïnnen kritisieren Facebooks Vorsicht als übertrieben oder halten sie gar für vorgeschoben. Sie sagen aber auch, dass EU-Kommission und FTC eindeutigere Vorgaben schaffen müssen, wie und unter welchen Voraussetzungen Tech-Unternehmen Daten mit der Wissenschaft teilen dürfen.

Die beste Zusammenfassung des zähen Ringens um die Freigabe liefert Stanford-Professor Persily: „Sie können mich gern damit zitieren: Das war die frustrierendste Angelegenheit, an der ich in meinem ganzen Leben beteiligt war“, sagt der Forscher (Protocol).

Be smart: Als Außenstehender ist es einfach, Facebook an den Pranger zu stellen. 20 Monate Verzögerung, wenn es darum geht, Daten für die Forschung zu teilen – wie lange es wohl gedauert hätte, wenn es nicht um Wissenschaftlerïnnen, sondern um Werbekunden gegangen wäre?

Ein Teil dieser Kritik ist vermutlich berechtigt. Schließlich haben auch viele Forscherïnnen, die an dem Projekt beteiligt waren oder sind, ihre Frustration teils vorsichtig (NYT), teils deutlich zum Ausdruck gebracht (BuzzFeed) und sogar mit dem Ausstieg gedroht (SSRC). Der Datenanalyst Philip Kreißel weißt außerdem darauf hin, dass Twitter ähnliche Daten dauerhaft über seine API bereitstelle.

Auch hinter der Qualität steht ein Fragezeichen. „Wir sind ziemlich sicher, dass die Daten für unsere Frage so nicht taugen“, sagte der deutsche Politikwissenschaftler Simon Hegelich, nachdem Facebook im vergangenen Oktober einen ersten Datensatz veröffentlicht hatte (SZ). Hegelich wollte untersuchen, welche Auswirkungen gezielte Desinformation auf die Bundestagswahl 2017 hatte. Da Facebook nach wie vor keine Informationen über URLs herausrückt, die in privaten Gruppen geteilt wurden, fehlt ein zentraler Baustein.

Man kann es aber auch anders sehen und sagen: besser spät als nie, besser gründlich anonymisiert als überstürzt veröffentlicht. Facebook kann es niemandem Recht machen: In einem Fall klagen die Datenschützerïnnen, im anderen Fall die Wissenschaftlerïnnen.

Es ist gut möglich, dass ein Projekt, von dem Facebook kommerziell profitiert hätte, mit anderen Ressourcen ausgestattet worden wäre. Die Löschfunktion Off-Facebook Activity, die Nutzerïnnen mehr Kontrolle über ihre Daten geben soll, ließ ebenfalls mehr als anderthalb Jahre auf sich warten (SZ).

Dasselbe gilt aber auch für Projekte wie Libra, hinter dem sehr wohl ein (gewaltiges) finanzielles Interesse steckt. Deshalb: Die Verzögerung ist bedauerlich, die Limitierungen sind schmerzhaft, aber es ist gut, dass es Social Science One überhaupt gibt. Ein endgültiges Urteil wird erst möglich sein, wenn Wissenschaftlerïnnen die ersten Forschungsprojekte veröffentlichen, die auf den neuen Daten basieren.

Know more: Was Anonymisierung von Pseudonymisierung unterscheidet, und warum es so schwierig es, Daten zuverlässig und dauerhaft zu anonymisieren, erklärt der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber im Netzpolitik-Interview: „‚Anonym‘ ist höchstens eine Momentaufnahme

Influencer-Politik-Marketing

Was ist: In der vergangenen Ausgabe haben wir bereits kurz über Michael Bloombergs Social-Media-Strategie berichtet. Konkret ging es um die Idee des milliardenschweren US-Präsidentschaftsbewerbers, beliebte Meme-Maker auf Instagram dafür zu bezahlen, Bloomberg-Memes zu verbreiten. Die New York Times berichtete ausführlich. Heute wollen wir noch einmal etwas genauer hinschauen.

Warum ist das Thema wichtig?

    1. Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass es Bloomberg bei seiner Strategie gar nicht so sehr darauf ankommt, was mit den Memes auf Instagram selbst passiert. Ob sie beim Publikum verfangen, ist eher zweitrangig. Wichtig ist Bloomberg vor allem, dass er Aufmerksamkeit von traditionellen Medien bekommt. Alle, die über Bloombergs Strategie berichten, respektive die Memes weiterverbreiten, werden somit automatisch Teil des Bloombergschen Zirkus. Eine Strategie, die wir bereits von Trump kennen. Mike Bloomberg is hacking your attention. (New York Times)

 

    1. Bislang waren auf Facebook und Instagram sogennante „sponsored posts by campaigns“ verboten. Und auch mit Blick auf das amerikanische Wahlrecht bewegt sich Bloomberg mit seinen Memes in einer Grauzone – gerade auch hinsichtlich der Kooperation mit Influencern.

 

  1. Die FTC hatte jüngst erklärt, künftig sehr viel drastischere Strafen auszusprechen (Techcrunch), wenn Influencerïnnen nicht für alle Userïnnen sofort auf einen Blick nachvollziehbare Kooperationen eingehen. Die Memes von Bloomberg waren jedenfalls nicht durch die Bank sauber gekennzeichnet.

Wie Facebook & Instagram reagieren: Als Reaktion auf Bloombergs Kampagne erklären Instagram und Facebook, dass Wahlwerbung, die von Influencerïnnen verbreitet wird, künftig über das Branded-Content-Ads-Tool als „Paid Partnership“ deklariert werden muss. Zudem erklären die Unternehmen, dass diese Form der Werbung nicht in die Ad Library aufgenommen wird, sie aber sehr wohl einem Fact Checking unterzogen werden könnten – und zwar dann, wenn Influencerïnnen so tun, als würden sie für den Kandidaten sprechen. Zitat:

„So for example, if an influencer posted “I support Bloomberg because he’s a veteran and a war hero”, that would be in their own voice and could be fact-checked as false since he did not serve in the armed forces. But if an influencer posted “Michael Bloomberg says ‘Vote for me. I’m a war hero’”, that would be in the politician’s voice and ineligible for fact-checking.“

Be smart: Influencer Marketing ist bereits jetzt häufig ein Albtraum (BuzzFeed). Sowohl mit Blick auf die Rechtssicherheit für Influencerïnnen als auch mit Blick auf die bewusste Irreführung von Nutzerïnnen. Sollte nun die Politik künftig stärker auf Influencer Marketing setzen, könnte es noch ein Stück unübersichtlicher werden.

Know more:

  • Nicht wirklich Influencer Marketing, aber auch in Deutschland tut sich etwas an der Schnittstelle Social Media und Politik: Kollege Martin Fuchs arbeitet an einer Übersicht aller deutschen Politikerïnnen bei TikTok. Hier geht es zum Google Sheet.

Streaming Wars

YouTube, still king in the ring: Immer mehr Menschen konsumieren Medieninhalte über Smartphones. Bislang hat YouTube dabei die Nase vorn – und zwar um Längen. Angebote wie Netflix oder Quibi werden sich ziemlich strecken müssen, um YouTube den Rang abzulaufen. (The Verge)

Snapchat auf Expansionskurs: Die Kollegen von DWDL haben sich von Snapchat erklären lassen, warum sie neben den erfolgreichen US-Formaten künftig auch stärker lokale Serien bei Snapchat Discover anbieten wollen. Zitat:

„Unsere jungen Nutzer empfinden ihren Feed als ähnlich kostbar wie viele Ältere die Sendezeit im TV. (…) Deshalb verlesen wir unsere Partner sorgfältig von Hand, ungefähr so, wie man seine besten Freunde aussuchen würde.“

Inspiration

Was sich mit Twitter-Threads so alles anstellen lässt: Twitter UK hat den Valentinstag zum Anlass genommen, die Macht von Twitter Threads unter Beweis zu stellen. Sehr, sehr cool! Wer sich näher damit beschäftigen möchte, klickt hier oder auf den Screenshot.

Schon einmal im Briefing davon gehört

Google Maps schafft Tatsachen: Zwar ist das Phänomen spätestens seit der Krim-Krise bekannt, aber dieses Video der Washington Post zeigt noch einmal sehr eindrücklich, wie Google je nach Betrachter unterschiedliche Grenzen auf Karten zieht. Eigentlich total verrückt.

Facebooks Satelliten-Projekt: Während Elon Musk bereits konkret an einem weltumspannenden Internet-Satelliten-Schirm arbeitet (Wikipedia), schien es etwas ruhig geworden um Facebooks Ambitionen, Facebook-Internet bis in den letzten Winkel der Erde zu bringen. Doch wie es aussieht, sind die Pläne keineswegs abgehakt. Bereits im März könnte das Projekt wieder abheben. (Business Insider)

Modern day eBay: Beim Schreiben dieser Zeilen komme ich (Martin) mir gerade wahnsinnig alt vor, aber ich habe im Internet gelesen (😂), dass Instagram von vielen Kids als moderne Variante von Bay genutzt wird. Das Phänomen war mir so bislang nicht bekannt, macht aber natürlich total Sinn. Beim Input Mag wird ausführlich beschrieben, wie (und warum) die Kids das machen: Teens are hacking Instagram into a modern-day eBay. Spoiler: Es geht um Money, Fame und Nachhaltigkeit.

The Social Dilemma: Der preisgekrönte Filmemacher Jeff Orlowski widmet sich in seinem neuesten Projekt den sozialen Medien. Genauer gesagt widmet er sich vor allem den Schattenseiten. Zitat:

„This potent documentary (…) lends a podium to various experts who are certain the pervasive influence of under-regulated social media is destroying civilization from within. The problem, to paraphrase Mark Twain, is that it’s much easier to manipulate people than to persuade them they’re being manipulated.“

Der Film The Social Dilemma gehörte beim renommierten Sundance Festival jedenfalls zu den Streifen, über die am meisten diskutiert wurde. Ich bin sehr, sehr gespannt auf die Doku! (Variety)

Neue Features bei den Plattformen

Instagram

  • Latest Posts: Nein, liebe Freunde des chronologisch sortierten Instagram-Feeds, das Test-Feature Latest Posts bedeutet nicht die Rückkehr des geliebten Instagram-Features. Sehr wohl zeigt das Ergebnis des Hackathons aber, dass sich die Programmierer bei Instagram darüber im Klaren sind, wie sehr Userïnnen die Funktion noch immer lieben. (Techcrunch)

Facebook

  • Hobbi: Facebooks Kreativ-Abteilung NPE hat die nächste Test-App auf den Markt gehauen: Hobbi ist dafür gedacht, persönliche Projekt zu dokumentieren – etwa die Renovierung der Wohnung, die Umgestaltung des Gartens, den Aufbau der Modelleisenbahn oder was auch immer. Die App erinnert irgendwie an eine Mischung aus Pinterest und Mini-Youtube und ist bislang nur in den USA, Kolumbien, Belgien, Spanien und der Ukraine verfügbar. (Techcrunch)

LinkedIn

  • Feature on top of profile: Von WordPress, Facebook und Twitter kennen wir bereits die Option, bestimmte Posts ganz oben im Profil zu pinnen. Es sieht ganz danach aus, als wäre dies bei LinkedIn künftig auch möglich (Twitter / JuliaBramble)

 

Tipps, Tricks und Apps

Apps, die einen vor Apps beschützen, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Zwar erlauben Social-Media-Plattformen und Suchmaschinen ziemlich differenzierte Privatsphäre-Einstellungen, die allermeisten Nutzerïnnen haben aber keinen Bock, sich mit ihnen vollends vertraut zu machen. Angebote wie disconnect.me oder Jumbo ermöglichen es Nutzerïnnen, all diese Einstellungen zentral und komfortabel vornehmen zu können. Kollege Alex Hern stellt die Apps beim Guardian vor und erklärt, was bei der Nutzung berücksichtig werden sollte.

Remember Hipstamatic: Die populärste Foto-Sharing-App der Welt ist heute ohne jeden Zweifel Instagram. Dass es so kam, war aber mitnichten ein Selbstläufer. 2010 sah es zunächst so aus, als würde Hipstamatic das Rennen für sich entscheiden. Die Macher der Bezahl-App freuten sich zum damaligen Zeitpunkt über rund 4 Millionen Nutzerïnnen, sie wurden gar von Apple zur „App of the Year“ ausgezeichnet. Das Problem: Hipstamatic war als kreatives Werkzeug gedacht, nicht als Social Network. Als sie Instagrams Erfolg registrierten, packten sie rasch eine Social-Network-Komponente obendrauf und wurden – eigentlich zu unrecht – als Trittbrettfahrer wahrgenommen. Die Folge: Geldgeber glaubten nicht länger an Hipstamatic, die Weiterentwicklung geriet ins Stocken. Seit ein paar Monaten nun ist Hipstamatic wieder am Start – mit neuen Features und einer überarbeiteten UI. Matthias Schüssler beschreibt, was es mit der Neuauflage der App auf sich hat.

Header-Foto von Jan Gegne bei Unsplash