Von Telegram bis 4chan: Wo sich Rechtsextreme vernetzen

Was ist: Jakob Guhl, Julia Ebner und Jan Rau haben für das Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD) analysiert, wie rechtsextreme Online-Subkulturen auf alternativen Plattformen gedeihen. Die Studie trägt den Titel "Das Online-Ökosystem Rechtsextremer Akteure". Das 76-seitige PDF liegt bislang nur auf Englisch vor. Bei der Bosch-Stiftung, die das Projekt gefördert hat, gibt es eine deutsche Zusammenfassung (PDF, zwölf Seiten).

Warum das wichtig ist: Allein im vergangenen Jahr gab es vier rechtsextrem motivierte Terroranschläge (Christchurch, El Paso, Poway, Halle). Die Täter waren junge, weiße Männer, die sich mit Gleichgesinnten auf Imageboards wie 8chan ausgetauscht und in ihrem Hass auf Frauen, Ausländer und Jüdïnnen bestätigt hatten. Sie übertrugen ihre Morde live ins Netz (der Täter von Poway versuchte es vergeblich) und veröffentlichten krude Pamphlete, die Bezug auf rassistische Memes und Verschwörungstheorien wie den "großen Austausch" nehmen.

Diese Subkultur ist also mehr als eine Parallelwelt voller extremistischer Spinner, die im Netz zur Gewalt aufrufen. Einige von ihnen machen ihre Drohungen war. Sie bauen Waffen und ermorden Menschen. In den vergangenen fünf Jahren haben rechtsextrem motivierte Terroranschläge stark zugenommen (die Studie spricht von 320 Prozent, gibt aber keine Quelle an). Das alternative Online-Ökosystem hat definitiv dazu beigetragen.

Was die Forscherïnnen untersucht haben: Die Digital Analysis Unit des ISD hat sich vor allem mit deutschsprachigen und auf Deutschland fokussierten Communities beschäftigt. Mit qualitativen und quantitativen Methoden wie Befragungen und automatisierten Textanalysen beleuchten die Wissenschaftlerïnnen insgesamt zehn alternative Plattformen und deren Nutzerïnnen.

Dazu zählen sechs ultralibertäre Plattformen, die nahezu bedingungslose Redefreiheit versprechen und damit Rechtsextreme anziehen: 8chan, Telegram, Minds, Voat, Gab und BitChute. Hinzu kommen vier "gekaperte" Plattformen, die nicht nur, aber auch von Extremistïnnen genutzt werden: 4chan, Reddit, VK und Discord.

Was die Forscherïnnen herausgefunden haben: Die komplette Studie wiederzugeben, sprengt dieses Briefing. Deshalb picken wir einige Erkenntnisse heraus, die wir für besonders wichtig und/oder überraschend halten:

  • Auf den untersuchten Plattformen sind 15.000 bis 50.000 Personen mit rechtsextremen Ansichten aktiv. Im Vergleich zu großen Plattformen wie Facebook sprechen wir also von einer kleinen, aber umso radikaleren Minderheit.
  • Unter den 379 Gruppen und Kanälen dominieren muslimfeindliche Akteure (104) und Neonazis (92). Die größte Reichweite weisen identitäre Kanäle auf.
  • Auf 4chan enthalten mehr als die Hälfte der Beiträge über Jüdïnnen klar antisemitische Narrative. Dahinter steckt nicht nur eine toxische Diskussionskultur, sondern eine antisemitische Grundstimmung.
  • Für die AfD spielen die alternativen Plattformen keine große Rolle. Die Partei nutzt eher etablierte soziale Medien.
  • Die Beweggründe, aus denen Menschen die Angebote nutzen, unterscheidet sich stark: Auf Gab treibt die Nutzerïnnen etwa die Sorge um Meinungsfreiheit um. Wer auf dem anarchischen 4chan-Board /pol/ postet, lehnt Minderheiten ab oder will unterhalten werden.
  • Einwanderung und angeblich kriminelle Flüchtlinge sind die am häufigsten diskutierten Themen über alle Plattformen hinweg. Zwölf Prozent der Beiträge erwähnen die Verschwörungstheorie des "großen Austausch".
  • Rechtsextreme Influencerïnnen, deren Accounts auf den großen Social-Media-Plattformen gesperrt wurden, weichen hauptsächlich auf Telegram aus.
  • Nur ein kleiner Teil der untersuchten Postings enthält Aufrufe zur Gewalt. Obwohl die meisten Inhalte nicht eindeutig strafbar sind, erzeugen die von Ressentiments und Rassismus dominierten Beiträge "das Gefühl dringenden Handlungsbedarfs zum vermeintlich notwendigen Schutz der Eigengruppe".
  • Eine solche Grundstimmung kann zu gewalttätigem Extremismus und Terroranschlägen führen, ohne dass direkt zu Gewalt aufgerufen wird.
  • Deplatforming scheint zu wirken: Wenn rechtsextreme Akteure von großen sozialen Netzwerken gesperrt werden, können sie meist nur einen kleinen Teil ihrer Followerïnnen auf alternative Plattformen mitnehmen.
  • Eine Stichprobe von 25 Gruppen hat auf Nischenkanälen zehn Mal weniger Reichweite als auf etablierten Plattformen. Wer weiter auf den großen Netzwerken aktiv ist, gewinnt auch in der Subkultur an Einfluss. Im Umkehrschluss führt eine Verbannung nicht zu einer Massenabwanderung der Followerïnnen in die Nische.

Was die Forscherïnnen empfehlen: Im Gegensatz zu den recht konkreten Ergebnissen bleiben die Handlungsempfehlungen eher allgemein und abstrakt. Das spricht aber nicht gegen die Wissenschaftlerïnnen, sondern zeigt nur, dass es für ein komplexes Problem keine einfachen Lösungen gibt.

Guhl, Ebner und Rau sehen alle gesellschaftlichen Akteure gefordert: Politik, Tech-Unternehmen, Zivilgesellschaft und Forschung müssten gemeinsam tätig werden, um Radikalisierung zu verhindern. Dazu zählen sie unter anderem diese Maßnahmen:

  • Große soziale Netzwerke sollen mit alternativen Plattformen zusammenarbeiten, damit diese terroristische und extremistische Inhalte besser erkennen und bekämpfen können. Für Angebote wie Gab oder 8chan, die sich aktiv gegen solche vermeintliche Zensur wehren, ist das allerdings keine Option.
  • Regierungen müssen gemeinsam mit Forscherïnnen neue Definitionen von (Rechts-)Terrorismus entwickeln und festlegen, wo Strafbarkeit beginnt. Das ist eine Voraussetzung, um Inhalte zu löschen.
  • Wer digital belästigt, bedroht oder angegriffen wird, braucht einfacheren Zugang zu juristischer und psychosozialer Unterstützung. Die Täterïnnen, die versuchen, ihre Opfer einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, müssen konsequenter ermittelt und bestraft werden.
  • Auch die etablierten Plattformen stehen in der Verantwortung: Ihre Algorithmen, die der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, empfehlen oft radikalisierende Inhalte, die Nutzerïnnen immer weiter ins Extrem treiben. Hier regen die Forscherïnnen eine gesetzliche verankerte Sorgfaltspflicht für Plattformbetreiber an.
  • Wenn Plattformen Accounts sperren, sollen sie die Entscheidungen nachvollziehbar und öffentlich begründen. Andersherum braucht es transparente Prozesse für Nutzer ïnnen, die sich gegen eine Sperre wehren wollen, die sie als ungerechtfertigt empfinden.
  • Systematische Monitoring und Machine-Learning-Technologien können helfen, konkrete Drohungen frühzeitig zu erkennen und mögliche Anschläge zu verhindern.
  • Lehrkräfte, Eltern und Sozialarbeiterïnnen sollen geschult und für die Gefahr sensibilisiert werden, die von alternativen Plattformen ausgeht.
  • Da sich die Online-Subkulturen immer weiter dezentralisieren und auffächern, sind plattformübergreifende Analysen und Forschung nötig. Damit können Wissenschaftlerïnnen dazu beitragen, die rechtsextremen Online-Ökosysteme auszuleuchten, die Verbreitungswege der Inhalte nachzuvollziehen und die Motivation der Nutzerïnnen besser zu verstehen. Nur dann ist es möglich, effektive Gegenstrategien zu entwickeln.

Be smart: Im vergangenen Jahr haben wir uns mehrfach mit der Rolle beschäftigt, die Netz, Medien und Online-Subkulturen für Terroranschläge spielen. Die Analyse aus Briefing #586, die wir nach dem Massenmord von Halle geschrieben haben, ist nach wie vor aktuell.

Einen Aspekt betonen wir erneut, da er in der Studie nur sehr am Rande auftaucht: Auch klassische Medien haben eine Verantwortung. Es gibt den Werther-Effekt nicht nur für Selbstmorde, sondern auch für Terrorismus. Die Art und Weise, wie Journalistïnnen über Attentäter berichten, ist entscheidend, ob sie ihr Ziel erreichen.

Diese Terroristen inszenieren ihre Morde nicht für die anderen Anons auf ihren Imageboard, sondern für eine massenmediale Öffentlichkeit. Sie wollen Schrecken verbreiten und streben maximale Aufmerksamkeit an. Es liegt auch an Zeitungen, Fernsehsendern und Online-Medien, das zu verhindern.

Know more:

  • Die Broschüre "Alternative Wirklichkeiten" der Amadeu-Antonio-Stiftung beschäftigt sich ausführlich mit rechts-alternativen Medienstrategien. Das PDF-Dokument umfasst 100 Seiten und ist einen Bookmark Wert.

Grafik: Julia Tripke