Salut und herzlich Willkommen zur 471. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Martin ist im wohlverdienten Urlaub, deshalb übernehme diese Woche ich, Simon. Kommende Woche macht das Watchblog Sommerpause, in der KW 31 springt Tilman Wagner ein, dann ist Martin wieder zurück.

Mein letzter Newsletter ist schon eine ganze Weile her. Seitdem sammle ich nur noch Links für das Briefing. Wer neu dazugekommen ist oder sich nicht mehr an mich erinnern kann: Ich schreibe für die SZ ins und übers Internet.

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82 Minuten mit Mark Zuckerberg

Was ist? Der Facebook-Chef spricht fast anderthalb Stunden mit Kara Swisher von Recode. Hier gibt es das Interview zum Nachlesen und Nachhören. Das komplette, wortgetreue Transkript stellt Recode ebenfalls online. Für die meisten sollte die redaktionell bearbeitete Version aber reichen. Sie ist kürzer und enthält alle wesentlichen Informationen.

Warum ist das interessant? Wie fast alle US-amerikanischen CEOs redet Mark Zuckerberg selten mit Medien. Meist passiert das nur, wenn Facebook ein großes Problem hat – etwa während der Cambridge-Analytica-Affäre im Frühjahr. Damals erschienen binnen eines Tages gleich mehrere Interviews in US-amerikanischen Medien. Allerdings waren sie sich zum Verwechseln ähnlich und bestanden größtenteils aus perfekt vorbereiteten PR-Phrasen. Auch die Auftritte vor dem US-Kongress und dem EU-Parlament sagten mehr über die Selbstdarstellungssucht und das mangelnde technische Verständnis mancher Abgeordneter aus als über Facebook selbst.

Dieses Gespräch ist anders: Kara Swisher stellt kritische Fragen und hakt nach, aber Zuckerberg muss sich nicht für eine aktuelle Krise rechtfertigen. Wohl auch deshalb habe ich den Eindruck, zumindest in einigen Momenten zu erfahren, was Mark Zuckerberg tatsächlich denkt – und nicht nur zu lesen, was seine PR-Berater ihm eingeflüstert haben.

Was genau sagt Zuckerberg? Das Interview ist sehr lang und lässt sich kaum in drei Stichpunkten zusammenfassen. Keine der Aussagen hat für sich genommen großen Nachrichtenwert. Ich finde trotzdem, dass sich die Zeit lohnt, weil es so selten ist, dass einer der mächtigsten Menschen der Welt mehr oder weniger offen spricht und teilweise sogar versucht, lustig zu sein (eine der Szenen, die Recode als News ausgekoppelt hat).

Einige Dinge, die ich persönlich interessant fand:

  • Gleich in seinem ersten Satz widerspricht Zuckerberg Trump: Facebook habe „ziemlich deutliche Beweise“, dass Russland versucht habe, die Wahl zu beeinflussen.
  • Zu Beginn sei Facebook mit der mutmaßlich russischen Desinformations-Kampagne überfordert gewesen. Das Security-Team sei auf klassisches Hacking spezialisiert gewesen und hätte keine Erfahrung mit den Methoden der „Internet Research Agency“ gehabt, die versucht habe, über Facebook die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
  • Zuckerberg erklärt, warum Facebook die Seite der rechten Plattform Infowars nicht löschen will, obwohl sie nachweislich Verschwörungstheorien verbreitet, die keine Faktengrundlage haben. Wenn Infowars behaupte, das Sandy-Hook-Massaker habe nicht stattgefunden, sei das natürlich falsch. Aber auch er selbst sage öffentlich falsche Dinge.
  • In Zuckerbergs Antwort wird die US-amerikanische Auslegung von „Free speech“ deutlich, die für Deutsche befremdlich ist. Er sei Jude und empfinde Holocaustleugnung als extrem beleidigend – und dennoch sei das von der Meinungsfreiheit gedeckt. Statt solche Aussagen oder Seiten komplett zu löschen, sollen Algorithmen ihre Reichweite einschränken. Recode hat daraus eine separate Nachricht gemacht. (Kurze Ergänzung am Morgen: Zuckerberg hat in einer E-Mail an Swisher nachträglich klargestellt, dass er Holocaustleugnung in keinster Weise verharmlosen wollte.)
  • Nicht nur Deutsche stören sich an dieser Sichtweise. Kritik kommt auch aus den USA. Dort wird die Debatte über Infowars seit einigen Tagen geführt. Schon vor dem Zuckerberg-Interview hatten etliche Journalisten Facebooks laxen Umgang mit Verschwörungstheorien und Falschnachrichten kritisiert. In fünf Tweets erklärt Zeynep Tufekci, warum sie das Vorgehen als scheinheilig und inkonsequent empfindet. Eine gute Zusammenfassung liefert Casey Newton, der weitere Texte verlinkt und hier deutlich macht, warum Infowars auf Facebook nichts verloren hat.
  • Möglicherweise liegt Facebooks Zögern auch daran, dass Konservative seit Monaten Druck ausüben, Facebook linksliberale Voreingenommenheit unterstellen und vermuten, dass ihre Meinungen unterdrückt würden. Ein seltsamer Vorwurf, da konservative Facebook-Seiten die mit Abstand größte Reichweite besitzen und niemand so viel Geld für politische Facebook-Werbung ausgibt wie Trump: 274.000 Dollar seit Anfang Mai.
  • Auch darauf spricht Swisher Zuckerberg an, der klare Aussagen vermeidet. Seine politische Haltung will er nicht verraten – bezieht aber immerhin eindeutig Stellung gegen die Trennung von Familien an der US-Grenze.
  • Die EU hat gerade eine Rekordstrafe gegen Google verhängt und zeigt, dass sie nicht davor zurückschreckt, große Tech-Firmen zu regulieren. Der Wiener Privacy-Forscher Wolfie Christl fordert bereits, dass Facebook das nächste Ziel sein sollte. Zuckerberg warnt – natürlich – vor harten Maßnahmen: Wer Facebook zerschlage, ebne damit den Weg für chinesische Dominanz (hier als ausgekoppelte News).
  • Lange Zeit hat sich Zuckerberg jedes Jahr ein persönliches Ziel vorgenommen, etwa Mandarin zu lernen oder eine künstliche Intelligenz zu programmieren, die sein Haus steuert. Aktuell habe er nur ein Ziel: Facebook reparieren. Die Herausforderung sei groß und erfordere seine gesamte Aufmerksamkeit. Da könnte er recht haben.

Be smart: Kara Swisher ist eine der besten Tech-Journalistinnen, die ich kenne. Man kann ihr wirklich nicht vorwerfen, das Silicon Valley allzu unkritisch zu behandeln. Im Vorspann schreibt sie: „Ich denke, das Interview vermittelt das Bild eines ernsten und umsichtigen Tech-Leaders, der auch mit den dunkleren Seiten seiner Schöpfung ringt.“ Diese Einschätzung teile ich. Von der nachträglichen Kontroverse um die Aussage zur Holocaustleugnung abgesehen kommt Zuckerberg tatsächlich gut weg. Es gibt schon einen Grund, warum Facebook das Gespräch auf Twitter auch selbst bewirbt.

So nahbar sich Zuckerberg geben mag, am Ende ist es in erster Linie PR. Man sollte Facebook an seinen Taten messen, nicht an den Worten seines Chefs. Im April hat Netzpolitik eine Chronik der Entschuldigungen zusammengetragen, die Facebook seit 2003 öffentlich geäußert hat – es ist eine lange Liste. Ich bin mir sicher, dass sie weiter fortgeschrieben werden wird.

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Neues von den Plattformen

Facebook

  • „Ein besseres Facebook“: So heißt eine neue Image-Kampagne, die Nutzern klar machen soll, dass Facebook Datenschutz ernst nimmt. „Facebook will zuhören und lernen – mal wieder“, ordnet der geschätzte Kollege Dennis Horn die PR-Bemühungen ein. „Als eins der größten Unternehmen der Welt steht Facebook aber in der Verantwortung, erst nachzudenken und dann zu handeln – und nicht anders herum.“
  • Wo die „Fake News“ herkommen: Jeder kennt die Geschichte: Mazedonische Jugendliche sollen mit sogenannten Fake News, die sie auf Facebook verbreiteten, den US-amerikanischen Wahlkampf beeinflusst haben. Eine Buzzfeed-Recherche zeigt: Es waren wohl mehr als ein paar Teenager, die Geld verdienen wollten. Tatsächlich sollen einflussreiche amerikanische Rechte beteiligt sein. Es gibt auch Spuren, die nach Russland deuten.
  • Facebook löscht das Falsche: Rassistische Kommentare bleiben stehen – wer auf Rassismus aufmerksam macht, wird zensiert. Diesmal traf es eine 25-Jährige aus Bayern, die auf Alltagsrassismus aufmerksam machen wollte. Ob Algorithmen angeschlagen haben oder überforderte menschliche Moderatoren dafür verantwortlich sind: Content-Moderation auf Facebook ist und wird auf absehbare Zeit fehleranfällig bleiben.
  • Warum Facebook das Falsche löscht: A propos Content-Moderation: Ein Investigativ-Journalist von Chanel 4 hat sich bei einer Agentur in Dublin eingeschlichen, deren Mitarbeiter für Facebook Inhalte prüfen und entfernen. Ich habe die Doku noch nicht gesehen. Die Zusammenfassungen (Deutsch, Futurezone / Englisch, The Verge) klingen vielversprechend. Facebook hat mit einem Blogeintrag reagiert, in dem Monica Bickert unter anderem erklärt, dass die Inhalte bestimmter Medien nach dem Vieraugenprinzip geprüft würden.
  • Was sagen Aktienkurse aus? Im Fall von Facebook und Twitter: nicht so viel.
  • Facebook öffnet sich für Wissenschaftler: Forscher erhalten Zugang zu Facebooks Datenschatz, um mehr darüber herauszufinden, wie sich Falschnachrichten verbreiten.
  • Geschlossene Gruppen als Herausforderung für Journalisten: Immer mehr Menschen ziehen sich aus den offenen sozialen Medien zurück, wo Dritte alles mitlesen können. Stattdessen posten sie in geschlossenen Facebook- oder Whatsapp-Gruppen. Wie können und sollen Journalisten dort recherchieren und darüber berichten? Ein Social-Media-Redakteur der BBC hat dazu in Harvard geforscht und gibt hilfreiche Ratschläge.
  • Gewinnspiele auf Facebook: Frage: Wer profitiert am meisten? Antwort: Facebook. Es erhält noch mehr Informationen über seine Nutzer.
  • Das weiß Facebook wirklich über seine Nutzer: Das persönliche Archiv enthält angeblich alle Daten, die Facebook über seine Mitglieder gespeichert hat. Ich habe mein eigenes Archiv heruntergeladen – und bin ziemlich skeptisch, ob das wirklich alles ist. Wichtiger als die Daten, die Nutzer freiwillig preisgeben, sind die Informationen, die Facebook selbst sammelt – ohne, dass Nutzer etwas davon mitbekommen.

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Twitter

  • Ein Paradies für Nudisten: Facebook und Instagram löschen nackte Haut bekanntlich kompromisslos. Twitter ist weniger prüde. Deshalb zieht es Menschen an, die Kleidung für überbewertet halten.
  • Social Media und das Urheberrecht: Wer in sozialen Netzwerken postet, verstößt häufig gegen das Urheberrecht – auch CDU-Politiker Axel Voss, der sich auf EU-Ebene für eine Verschärfung einsetzt. Vielleicht hätte er die Ratschläge des Rechtsanwalts Lars Riecklesen sollen, der erklärt, wie man auf Twitter, Facebook und Instagram Urheberrechtsverletzungen vermeidet.
  • Ausweis, bitte: Ende Mai trat die DSGVO endgültig in Kraft. Seitdem sperrt Twitter reihenweise Konten von Jugendlichen, da die Daten von Minderjährigen nur noch mit Zustimmung der Eltern gespeichert werden dürfen. Jetzt verlangt Twitter die Geburtsurkunden von Firmen, Vereinen und Blogs – weil die ihr Gründungsdatum als Geburtsdatum angegeben hatten.
  • Wofür Twitter Accounts sperrt: „Geh endlich sterben, menschenverachtender Zyniker“, schrieb Rechtsanwalt Thomas Stadler vergangene Woche. Gemeint war Horst Seehofer. Twitter löschte den Tweet und blockierte Stadlers Account für zwölf Stunden. Er selbst sieht den Tweet „äußerungsrechtlich ganz klar im zulässigen Bereich“. Viele Kommentatoren in seinem Blog widersprechen. Auch unter seinem Tweet, der auf den Blogeintrag verweist, verteidigen einige Twitters Entscheidung.
  • Schluss mit dem Rauschen: Wie und warum Anil Dash Tausenden Accounts auf einmal entfolgte – und was er dabei gelernt hat.

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One More Thing

Ich bin der Meinung, dass man grundsätzlich alles lesen sollte, was John Herrman schreibt (hier ist eine Übersicht seiner Texte für die New York Times). Dieser Essay ist keine Ausnahme: „Have the Tech Giants Grown Too Powerful?„, fragt er. Guter Lesestoff fürs Wochenende.